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"Ängste sind unsere Schutzengel"

Suzanne Cords 20. November 2015

Die Attentate in Paris haben viele Menschen verunsichert. Aber wie real ist die Gefahr für den Einzelnen? Im DW-Interview spricht Risikoforscher Klaus Heilmann über begründete und übertriebene Ängste.

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Angstforscher Klaus Heilmann © privat
Bild: privat

DW: Nach den Anschlägen in Paris fühlen sich viele Menschen nicht mehr sicher - an Bahnhöfen, in Fußballstadien, auf Weihnachtsmärkten und überall dort, wo es größere Menschenansammlungen gibt. Sie haben Angst vor Attentätern. Ist das aus Ihrer Sicht berechtigt?

Klaus Heilmann: Wenn man versucht, nüchtern über die Dinge nachzudenken, wird man sich selber sagen: Es lauert nicht überall ein Terrorist, nicht in der Münchner U-Bahn und nicht im Hamburger Hafen. Es ist nicht so, dass Terroristen jetzt plötzlich wie Pilze aus dem Boden schießen. Aber gezielte Aktionen von Gruppen, wie sie in Paris passiert sind, können natürlich auch an anderen Orten stattfinden, auch bei uns. Aber sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht bei den Fußballspielen an den kommenden Wochenenden passieren.

Viele sagen ja: Jetzt erst recht. Wir gehen weiter in Stadien oder auf Konzerte und lassen uns nicht einschüchtern. Aber sie haben trotzdem ein mulmiges Gefühl dabei.

Es sind ganz neue Dimensionen von Aktionen, die wir sehen und die möglicherweise noch auf uns zukommen. Und mit ihnen kommen Ängste, die für uns neu sind und die uns zunächst einmal beherrschen. Für Menschen in einem Land, in dem es wie bei uns bislang immer sehr friedlich war - und nach wie vor ist, ist die Situation natürlich eine andere als für Menschen in Ländern, in denen Krieg und Terror zum Alltag gehören. Für uns liegt die Problematik vor allem darin, dass wir die neuen Ereignisse noch nicht so richtig einordnen können - und also auch nicht wissen, wie wir uns verhalten sollen. Dafür benötigen wir Zeit. Je mehr Erfahrungen der Mensch mit Gefahren sammelt, umso gelassener wird er. Aus diffuser Angst wird konkrete Furcht und schließlich gesunde Vorsicht.

Menschen stehen neben einem ausgebrannten Autowrack @REUTERS/Mohamed Azakir
In Beirut sind Bombenanschläge seit Jahrzehnten an der Tagesordnung

Sie beschäftigen sich täglich mit Risiken und Ängsten. Was würden Sie auf keinen Fall tun?

Unabhängig von der jetzigen Situation würde ich nicht an einem Public Viewing teilnehmen, nicht in eine große Sportarena gehen oder an einer Massendemonstration teilnehmen - auch deshalb nicht, weil mich der Verzicht nicht in meinen Freiheiten einschränkt oder in meinen Wünschen beschränkt. Bei Menschenansammlungen dieser Größenordnungen kann es immer zu Massenpaniken kommen, oft auch ohne, dass eine konkrete Gefahr besteht. Es genügt der geringste Auslöser, ein scherzhafter Ruf "Feuer" oder "Bombe" - und die Menschen werden in Panik versetzt. Das ist die Gefährlichkeit von Massenansammlungen, bei denen man dann, wenn man mitten in der Menge ist, keine Chance hat, herauszukommen.

In den Medien wird täglich berichtet, dass jederzeit auch in Deutschland ein Anschlag stattfinden kann. Glauben Sie, dass die Terrorgefahr in unserem Land so groß ist wie die Angst davor?

Ich glaube, dass die Ängste nachvollziehbar sind, auch wenn sie nicht in der richtigen Relation zum tatsächlichen Ausmaß der Gefährdung stehen. Leider ist es für Menschen in Angst auch nicht hilfreich, wenn den ganzen Tag medial berichtet wird, ohne dass etwas substanziell Neues kommt. Wo permanent berichtet wird, muss beim Rezipienten der Eindruck entstehen, dass doch etwas passiert ist oder passieren wird, sonst würde man ja nicht laufend berichten. Das Nichtpassieren muss nicht ständig berichtet werden!

Polizisten stehen unter dem Schild: Landerspiel ist abgesagt @REUTERS/Fabian Bimmer
In Hannover wurde das Länderspiel Niederlande-Deutschland wegen akuter Sicherheitsbedenken abgesagtBild: Reuters/F. Bimmer

Die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen, ist relativ gering. Trotzdem haben die Menschen mehr Angst davor als vor alltäglichen Risiken wie dem Rauchen oder schädlichem Übergewicht. Woran liegt das?

An alltägliche Risiken hat man sich entweder gewöhnt, oder sie werden verdrängt, oder man glaubt, dass sie nicht einen selbst, sondern die anderen betreffen. Über 80 Prozent der Autofahrer halten sich selbst für sehr gute Autolenker und gehen deshalb davon aus, dass die Unfälle die anderen betreffen, nicht sie selbst. Wenn man einem Raucher oder einem Trinker erklärt, dass Rauchen und Trinken die Lebenserwartung erheblich verkürzt, wird ihn das nicht beunruhigen, denn er geht davon aus, die Quittung hierfür erst in späten Jahren zu erhalten. Er sieht nicht oder will nicht sehen, dass ihm die Quittung durch Krankheit und Gebrechen schon sehr viel früher präsentiert wird. Und obwohl man mit solchen Fakten aufklären kann, ist es sehr schwer, mit rationalen Mitteln irrationales Verhalten zu beeinflussen. Wenn beispielsweise eine 40-jährige Frau in kein Flugzeug steigt, weil ihr das Fliegen zu gefährlich ist, gleichzeitig aber die Pille nimmt und täglich 40 Zigaretten raucht, dann ist ihr Verhalten irrational. Das Todesrisiko des Rauchens liegt bei 1:180, also ein Raucher von 180 Rauchern stirbt innerhalb eines Jahres, das Risiko des Fliegens hingegen liegt bei etwa 1:5.600.000.

Jemand steckt sich eine Zigarette an Photographee.eu/Fotolia.com
Der Risikofaktor Rauchen wird von vielen nicht ernst genommenBild: Photographee.eu/Fotolia.com

Welche Gefahren nehmen Sie als Risikoforscher denn problemlos in Kauf?

Alles, was wir tun im Leben, ist mit Risiko verbunden. Sie gehen aus dem Haus, es kann der Dachziegel runterfallen, Sie können auf der Straße ausrutschen und sich auf einer Leiter zuhause das Genick brechen. Das ganze Leben, jeder Tag, jede Handlung ist mit Risiken verbunden. Das alles ist mir bewusst, ich denke aber nicht ständig darüber nach.

Sind Deutsche aus Ihrer Sicht ängstlicher als andere? Man spricht ja auch von der "German Angst".

Dieser Begriff "German Angst" ist ja wirklich ein weltweit bekannter Ausdruck geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob wir ängstlicher sind als andere, sicher tun wir uns mit Gefahren nicht so leicht wie beispielsweise die Franzosen. Es gibt einfach große nationale und kulturelle Unterschiede. In Großbritannien, wo sich der technische Fortschritt zunächst entwickelt hat, haben die Menschen ein ganz anderes Verständnis für die Abwägung von Chancen und Risiken. Und die Amerikaner sind vielleicht die Risikofreudigsten, was mit der Geschichte ihrer Vorfahren zu tun hat, die Einwanderer waren und in Europa nichts zu verlieren - und auf dem neuen Kontinent nur zu gewinnen - hatten. Vielleicht denken wir Deutschen etwas zu sehr über Risiken und Gefahren nach und sind bedenklicher. Aber bedenklich ist nicht das gleiche wie ängstlich.

Warum haben viele Deutsche oft schon Angst vor kleinen Dingen oder Veränderungen?

Weil es die großen Gefahren gar nicht mehr gibt. Mal abgesehen von der neuen Terrorsituation hat die Technikgeschichte gezeigt, dass unser Leben im Vergleich zu früher besser und sicherer geworden ist. Und je sicherer das tägliche Leben ist, umso eher werden wir von kleinen Dingen erschreckt, die für uns zur Gefahr werden können. Ich erinnere als Beispiel gern an den Braunbären Bruno. Als er 2006 plötzlich in den Alpen zwischen Bayern, Tirol und Norditalien auftauchte, rief er Panik hervor. Regierungen traten zu Sonderkonferenzen zusammen, niemand wusste, was man mit Bruno machen sollte und wie groß die Gefahr war, die von ihm ausging. Das Problem von Bruno war aber nicht, dass er ein Bär war, sondern dass die Menschen über hundert Jahre lang keinen Bären mehr gesehen hatten und deswegen die Gefahr, die von ihm ausging, nicht einschätzen konnten.

Braunbär Bruno läuft über eine Wiese c) dpa - Bildfunk
Braunbär Bruno wurde für die Behörden zum "Problembär"Bild: picture-alliance/dpa

Auch wenn unser Leben heute relativ sicher ist: Eine gesunde Portion Angst und Vorsicht kann nicht schaden, oder?

Nein, denn Angst ist unser wichtigster Schutzmechanismus vor Gefahren, der uns alarmiert und zum Handeln veranlasst. Ängste sind unsere Schutzengel.

Das Gespräch führte Suzanne Cords.

Klaus Heilmann arbeitete lange als Arzt und Universitätsprofessor. Heute ist er vor allem als Kommunikationsexperte, Risikoforscher und Autor tätig. Viele seiner Bücher wurden in fremde Sprachen übersetzt und Bestseller. Gemeinsam mit dem amerikanischen Professor für Medizintechnik und Pharmako-Epidemiologie John Urquhart entwickelte er 1983 nach dem Vorbild der Richterskala für Erdbeben eine "Sicherheitsskala" für technisch-zivilisatorische Risiken. Heilmann lebt und arbeitet in München.