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Rivalisierende Milliardenvölker

Matthias von Hein8. Oktober 2012

Indien und China. Zwei Länder, jedes groß wie ein Kontinent. Jedes mit einer Milliardenbevölkerung. Jedes im Aufstieg auf der Weltbühne. Ihre Beziehungen prägen die Welt von morgen. Doch sie sind bestimmt von Rivalität.

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Wen Jiabao Manmohan Singh Staatsbesuch in Peking 2008 (Foto: Getty Images)
Bild: Getty Images

Die Unterschiede der beiden Regionalmächte könnten größer nicht sein. Indien nennt sich gerne die größte Demokratie der Welt. Es hat eine freie Presse, eine unabhängige Justiz - aber auch Millionen hungernder Kinder. China wird autoritär von einer Kommunistischen Partei regiert und hat sich doch zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufgeschwungen. Beide sind direkte Nachbarn, getrennt durch eine 3.500 Kilometer lange Grenze. Über deren Verlauf sind sich beide Seiten  uneinig, auch ein halbes Jahrhundert nach ihrem Grenzkrieg.

"Die Konflikte sind denkbar breit angelegt" analysiert der Berliner Politikwissenschaftler und China-Experte Eberhard Sandschneider.  Indien sehe sich im Wettbewerb mit China. Fast schon zwanghaft werde in Indien der Vergleich mit China gepflegt - mit dem Ergebnis, dass man noch viel aufzuholen habe. Dann gebe es sicherheitspolitische Faktoren, fährt Sandschneider fort: "Aus indischer Sicht beobachtet man mit Argusaugen die sogenannte chinesische Perlenkettenstrategie, also den Aufbau von chinesischen Seestützpunkten im Umfeld Indiens." Dazu kommt der ungelöste Grenzkonflikt. Auch das Verhältnis Indiens zu Tibet ist nach Ansicht des Asien-Experten ein sensibles Thema. Schließlich beherbergt Indien den Dalai Lama und die tibetische Exilregierung.

Der neue Regierungschef der tibetsichen Exilregierung Lobsang Sangay mit dem Dalai Lama (Foto: dapd)
Reizthema Tibet: Die tibetische Exilregierung - hier der neue Regierungschef Lobsang Sangay mit dem Dalai Lama - hat ihren Sitz im indischen Dharmsala.Bild: AP

Konfliktstoff Wasser

Mit Blick auf die Zukunft sieht Sandschneider ein weiteres mögliches Konfliktthema: das Wasser der Flüsse aus der Himalaya-Region. Einige der wichtigsten Ströme Süd- und Südostasiens entspringen in Tibet, unter anderem der Brahmaputra. Sein Wasser ist unerlässlich für die Versorgung großer Teile Indiens und Bangladeschs. "In Anbetracht der großen Dürreprobleme sowohl in Nordchina als auch in Indien könnten Fragen der Wassernutzung zu einem erheblichen Konfliktpotential werden" befürchtet Sandschneider.

Zu dem gleichen Ergebnis kam im Februar eine im Auftrag des US-Außenministeriums angefertigte Studie. Die Autoren von "Global Water Security" prognostizieren für die nähere Zukunft wachsende Konflikte um Wasser. Der Bedarf steigt bei sinkenden Ressourcen. Treibende Faktoren sind vor allem Bevölkerungswachstum und Klimawandel. China verfolgt bereits jetzt  umfangreiche Dammbauprojekte am Oberlauf von Mekong, Salween und Brahmaputra.

Fischer am Brahmaputra (dpa)
Der Brahmaputra - hier in Assam - ist eine der Lebensadern Indiens, die im chinesischen Himalaya entspringen.Bild: picture alliance / dpa

Die Staaten weiter flussabwärts sehen dies mit Sorge, sie fürchten eine Verringerung der Wassermenge in den Flüssen. In Peking zirkulieren Pläne, das Wasser vom Oberlauf des Brahmaputra  in die von Dürre geplagten Regionen Nordchinas umzuleiten. Technisch ist das bislang nicht umsetzbar. Doch Indiens Ministerpräsident Manmohan Singh ist besorgt. Er hat das Thema bereits in Gesprächen mit der chinesischen Führung angesprochen.

Jagarnath Panda - China-Experte am "Institute of Defense Studies and Analysis" in Neu Delhi - zufolge hat Wasser früher in den bilateralen Beziehungen keinerlei Rolle gespielt. Jetzt aber werde es zu einem Schlüsselproblem zwischen Indien und China: " Es ist nicht die Grenzfrage. Es ist nicht die Frage, welche Rolle China oder Indien auf regionaler oder globaler Ebene spielen. Wasser wird in den nächsten fünf bis zehn Jahren zum schwerwiegendsten Problem zwischen beiden Staaten werden."

Tiefsitzendes Mißtrauen

Seit dem Grenzkrieg von 1962 herrscht auf indischer Seite ein tief sitzendes Misstrauen gegenüber China. Dieses Misstrauen wird genährt durch den Eindruck, China wolle den Aufstieg Indiens ausbremsen. Ein Beispiel ist Chinas Haltung gegenüber Indiens Bemühungen um einen permanenten Sitz im Weltsicherheitsrat. "China ist nicht begeistert von der Idee, Indien einen permanenten Platz im Weltsicherheitsrat zu geben", bestätigt der Bonner Politikwissenschaftler Gu Xuewu. "Aber China hat sich noch nie offen dagegen ausgesprochen. Peking hat immer argumentiert, dass eine solche Reform eines breiten internationalen Konsenses bedürfe." 

Die Karakorum-Straße verbindet China und Pakistan (Foto: DW)
Die Karakorum-Straße verbindet China und Pakistan, den Rivalen Indiens.Bild: picture-alliance/dpa

Der aus China stammende Gu hält für die Inder eine weitere schmerzliche Erkenntnis bereit: "Die Chinesen betrachten Indien nicht als Spieler in derselben Liga. Die chinesische Ambition ist ja, mit den USA auf einer Ebene zu spielen, nicht mit Indien. Deswegen braucht China Pakistan, um strategisch initiativ zu bleiben - im Bereich Energiesicherheit, Zugang zum Indischen Ozean, strategische Absicherung der Transportwege für den chinesischen Außenhandel."

Tatsächlich sind die Beziehungen zwischen China und Indiens Erzfeind Pakistan überaus eng, gerne spricht man von einer "Allwetterfreundschaft".  Die wachsende Kluft zwischen Pakistan und Washington hat Islamabad in jüngerer Zeit noch näher an Peking heranrücken lassen. Zuletzt konnte China den Betrieb des neuen Tiefseehafens von Gwadar übernehmen. Der wurde mit chinesischer Hilfe strategisch günstig in der Hafenstadt am Ausgang des Persischen Golfs, unweit der iranischen Grenze gebaut. Indien befürchtet, das Gwadar zu einem chinesischen Marinestützpunkt werden könnte. Peking hat bislang derartige Absichten bestritten.

Soldat im pakistanischen Seehafen Gwadar (Foto: AP)
China hat das Sagen in Pakistans Seehafen Gwadar nahe der iranischen Grenze.Bild: AP

Streit um Öl

Sogar bei den derzeit eskalierenden Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer gerät China in einen Konflikt mit Indien. Es geht um das sensible Thema Erdöl: China erhebt Anspruch auf nahezu das gesamte Südchinesische Meer. Neun Ölfelder knapp 70 Kilometer vor der vietnamesischen Küste bietet das Reich der Mitte internationalen Käufern an. Doch zwei dieser Ölfelder hatten die Vietnamesen längst den Indern zugesprochen.

In Kreisen von China-Beobachtern wird gerne der Spruch zitiert: Nur eines wächst schneller als die chinesische Wirtschaft: das chinesische Selbstbewusstsein.  Entsprechend robust tritt China in den Konflikten um umstrittene Seegebiete auf. Erst Mitte September hatte China seinen ersten Flugzeugträger in Dienst gestellt - ein Waffensystem, das nicht der Verteidigung dient, sondern der Projektion militärischer Macht.

Chinas erster Flugzeugträger im Hafen von Dalian (Foto: Getty Images)
Chinas erster Flugzeugträger (noch aus sowjetischer Herstellung) wurde Ende September in den Dienst gestellt.Bild: Getty Images

Aber auch Indiens Selbstbewusstsein hat durch die wirtschaftlichen Erfolge des letzten Jahrzehnts Flügel bekommen - auch wenn der Wachstumsmotor in letzter Zeit stottert und beim größten Stromausfall der indischen  Geschichte in diesem Sommer nebenbei auffiel, dass 300 Millionen Menschen überhaupt noch keinen Zugang zu Elektrizität haben. Die Atommacht Indien ist der größte Waffenimporteur der Welt. Dabei richtet sich der Blick der indischen Militärs nicht allein nach Pakistan, sondern mehr und mehr nach Norden, zum großen Nachbarn China.