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Die Frau, die die Lesben-Szene publik machte

Enrique Anarte tön
26. April 2019

Nach wie vor sind Lesben eine häufig übersehene Minderheit. Der "Lesbian Visibility Day" setzt daher ein Schlaglicht. Die Autorin Ruth Roellig beschrieb die Berliner Lesben-Szene schon in der Weimarer Republik.

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Die deutsche Journalistin Ruth Roellig (DW/E. Anarte; Rechte: Fischer Verlag, aus dem Buch "Zeit der Maskierung" von Claudia Schoppmann, Berlin 1993)
Bild: Fischer Verlag/Quelle: Bundesarchiv/Foto: DW/E. Anarte

Im Jahr 1928 war Berlin eine Stadt der Umbrüche. Allerorten herrschten Armut, Unsicherheit und politische Polarisierung. Zugleich aber erlebte die deutsche Hauptstadt Freiheiten, die einst reine Utopien waren. Die faschistische Ära war noch nicht angebrochen und so strebten Frauen und sexuelle Minderheiten nach ihrem Platz in der Gesellschaft.

"Die Weimarer Republik war vor allem in Berlin ein Ausbruch", sagt Sabine Balke, Geschäftsführerin des Digitalen Deutschen Frauenarchivs im DW-Interview. "Alles war möglich." So zumindest schien es. Denn weiterhin stieß die Emanzipation von Frauen im Alltag auf massive Widerstände, konnten Crossdresser auf der Straße verhaftet werden und blieben homosexuelle Beziehungen kriminalisiert.

Lesbische Zeitschriften - ein wichtiges Sprachrohr 

Lesben, die häufig als die unsichtbarste Gruppe innerhalb der LGBTI-Community gelten (LGBTI ist die englische Abkürzung für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersexuelle), bekamen immerhin einen Eindruck, wie die Gesellschaft aussehen könnte, wenn die Regeln anders wären. Es war wesentlich das Werk einer Frau, das damals eine erste Landkarte gleichgeschlechtlichen, weiblichen Liebens und Begehrens zeichnete: 

Ruth Roellig (1878-1969) begann kurz nach dem Schulabschluss zu schreiben. In einer männlichen und heterosexuellen Welt. Bald gelang es ihr, Belletristik und Reiseschriften zu veröffentlichen. In der Weimarer Republik mit ihrer zumindest relativen Pressefreiheit schrieb Roellig ihre, von heute besehen, bemerkenswertesten Texte.

"Für Lesben war die lockere Zensur in der Republik wichtig. Viele neue lesbische Zeitschriften sind erschienen", erklärt die Historikerin Laurie Marhoefer. "Garçonne", "Die Freundin" oder "Frauenliebe" waren einige der Zeitschriften, die homo- und bisexuellen Frauen die Möglichkeit gaben, nicht nur ihre eigenen Geschichten zu erzählen, sondern auch sichere Räume und Freizeitaktivitäten zu entdecken, die sie nicht zwangen, ihre sexuelle Orientierung zu verstecken.

Foto der Zeitschrift "Liebende Frauen" von Ruth Roellig (DW/E. Anarte)
Die Zeitschrift "Liebende Frauen" - ein Beispiel für Publikationen der Weimarer Zeit, die die weibliche Sexualität thematisiertenBild: Spinnboden Lesbenarchiv, Berlin/Foto: DW/E. Anarte

Als der Fortschritt unumkehrbar schien

"Man konnte in die Clubs gehen und ähnliche Leute treffen - andere lesbische Frauen - tanzen, Musik machen", sagt Balke. Es war die Zeit, als die ebenfalls offen homosexuelle Rebellen-Stimme der Kabarettkönigin Claire Waldoff in den Radios im ganzen Land gespielt wurde.

Durch ihre Artikel über Frauenliebe wurde Roellig zu einer führenden Figur in der lesbischen Szene im Weimar-Berlin. Die Veröffentlichung dieser Texte bedeutete auch ihr eigenes Coming-Out. Zu diesem Zeitpunkt schien das keine große Gefahr zu sein. Der Fortschritt muss sich unumkehrbar angefühlt haben.

Der erste queere Stadtführer

1928 erschien Roelligs Geschichte lesbischer Frauen in Deutschland. Und in "Berlins lesbische Frauen" porträtierte sie ausführlich das Netzwerk der Hauptstadt mit Bars, Cafés und Clubs: Es war ein bahnbrechender queerer Stadtführer. Und weit mehr als das: "Es ist ein wichtiger Beleg für das, was da war", betont Balke. Sie leitet auch das Berliner Lesbenarchiv Spinnboden und unterstreicht die Bedeutung des Buchs als historische Quelle. "Als Frauen in den 1970ern begannen, für eine offenere Sexualität oder gegen das Abtreibungsverbot zu kämpfen, wussten sie nicht, dass es in den 20er Jahren bereits etwas Ähnliches gegeben hatte."

Sabine Balke vom Digitalen Deutschen Frauenarchiv.
Sabine Balke, Geschäftsführerin des Digitalen Deutschen Frauenarchivs Bild: DW/E. Anarte

Der NS-Staat setzte 1933 dieser kurzen Zeit der sexuellen Emanzipation ein Ende. Die neuen Machthaber machten die Zeitschriften und Veranstaltungsorte, die für sexuelle Minderheiten in den letzten zehn Jahren so wichtig geworden waren, dicht. Auch Roelligs Leben veränderte sich immer mehr. "Sie hatte sich geoutet. Als lesbische Frau konnte sie nicht mehr schreiben. Sie musste schnell dafür sorgen, dass alles verschwand", erläutert Balke.

Beflecktes literarisches Erbe

Doch war es nicht das Ende ihrer Schreibkarriere. Sie veröffentlichte 1937 einen weiteren Roman: "Soldaten, Tod, Tänzerin". Das zu Teilen antisemitische Buch befleckt Roelligs literarisches Erbe. Für die US-Historikerin Marhoefer ist es zentral, diese umstrittene Seite der Pionierin lesbischen Aktivismus einzubeziehen: "Jedes Mal, wenn wir sie erwähnen, müssen wir auch diesen Teil ihres Erbes berücksichtigen. Sie war in der Nazizeit keine 'Zuschauerin'".

Balke stimmt zu, ergänzt jedoch: "Es war eine Frage des Überlebens. Deshalb können wir heute nicht einfach sagen: Sie war ein Nazi." Für Balke war Ruth Roellig zunächst einmal in größter Gefahr, nachdem sie offen etwas gelebt hatte, was das Regime hasste. Doch will Balke nicht ausschließen, dass Roellig auch Antisemitin war.

Für die Historikerin offenbart sich hier, was die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Werk gezeigt habe: "Dass Menschen nicht nur die eine Geschichte haben, und dass sie nicht nur gut oder nur schlecht sind." Ob Roellig wirklich antisemitisch war oder nicht, könne heute nicht mehr beantwortet werden, glaubt Sabine Balke. 

Als die Autorin 1969 in Berlin starb, hatte sie weder offen antisemitische Ansichten noch zeigte sie ihre sexuelle Orientierung. Was von ihr bleibt, sind ihre Bücher und Artikel; das Vermächtnis einer Frau, die Lesben in Berlin Jahrzehnte vor den Stonewall-Unruhen und ersten CSD-Paraden sichtbar machte. Damals wird sie sich der Bedeutung von "Berlins lesbische Frauen" kaum bewusst gewesen sein, glaubt Sabine Balke. Viele Jahre war das Buch vergessen, bevor es in den 1970ern unter dem Titel "Lila Nächte" neu verlegt wurde. Dank dieses Buchs, so Balke, "lebt Ruth Roellig in unserer Geschichte".

Foto von Ruth Roelligs Buch "Lila Nächte" (DW/E. Anarte)
Ruth Roelligs "Berlins lesbische Frauen" wurde als "Lila Nächte" neu aufgelegtBild: Spinnboden Lesbenarchiv, Berlin/Foto: DW/E. Anarte