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Sadr City bleibt Bagdads Problemviertel

Karlos Zurutuza (dt. Adaption: Michael Gessat)5. Mai 2012

Neun Jahre nach der US-Invasion ist Bagdads größtes Armenviertel weiterhin verwahrlost. Die einstige Rebellen-Hochburg gilt als Musterbeispiel für politische Inkompetenz und Korruption.

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Foto: DW/Karlos Zurutuza
Schwere Zeiten für Iraker in Sadr CityBild: DW

"Wir sind Hebammen, aber man hat uns alle entlassen und nun können wir unsere Familien nicht mehr ernähren. Will man uns etwa zwingen, stehlen zu gehen, um überleben zu können?" Sarah Majed ist 51 Jahre alt, sie kann die Verzweiflung unter ihrem Tschador kaum mehr verbergen. Zusammen mit fünf anderen Frauen in der gleichen Situation wartet sie nun schon seit Stunden, um bei Brahim Jawary vorsprechen zu dürfen – er ist in Sadr City die höchste politische und religiöse Autorität.

Gebaut wurde Sadr City 1959, damals noch unter dem Namen "Stadt der Revolution". Der neue Stadtteil im Nordosten von Bagdad sollte Wohnraum für die ärmere städtische Bevölkerung schaffen, aber auch für die vielen Zuwanderer aus ländlichen Gebieten. Heute leben im größten Armenviertel der irakischen Hauptstadt fast drei Millionen Menschen, die große Mehrzahl von ihnen sind schiitische Moslems.

Hochburg der schiitischen "Mahdi-Armee"

"Ich selbst kann diesen Frauen nicht helfen, aber ich werde mit dem Gesundheitsministerium sprechen", sagt Jawary dem Deutsche-Welle-Reporter – nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er täglich Dutzende solcher Bittsteller empfange. Der Geistliche beschreibt Sadr City als nahezu selbstverwaltete Stadt, da wird das Gespräch durch eine ältere Frau unterbrochen, die ein Foto ihrer vermissten Enkelin bei sich trägt.

Foto: DW/Karlos Zurutuza
Bittstellerinnen bei Brahim JawaryBild: DW

"Helfen Sie mir, sie zu finden!", fleht sie Jawary an, der ruhig auf seinem Teppich sitzen bleibt: "Ihre Eltern, ihre Onkel, praktisch alle Familienangehörigen sind jetzt tot", klagt die Alte unter Tränen. Es gibt immer noch viele Vermisste in Sadr City und das ist wenig überraschend. Die Straßen des Viertels waren jahrelang der Schauplatz heftiger Gefechte zwischen amerikanischen Truppen und den Kämpfern der örtlichen "Mahdi-Armee".

Bis zum Jahr 2003 hieß der Stadtteil noch "Saddam City", dann wurde er umbenannt – im Andenken an den Schiitenführer und Großayatollah Mohammed al-Sadr, der 1999 von Diktator Saddam Hussein umgebracht worden war. Sein Sohn Muktada al-Sadr ist der charismatische religiöse und politische Anführer, der die Milizionäre der "Mahdi-Armee" in ihrem Widerstand gegen die amerikanische Besatzung befehligte. Seit den Wahlen 2010 sitzt die "Sadr-Bewegung" mit 40 Abgeordneten im irakischen Parlament; Premierminister al-Maliki verdankt seine zweite Amtszeit der Unterstützung durch al-Sadr.

Vater und Sohn al-Sadr sind allgegenwärtig

Trotz des dichten Gewirrs von Kabeln und Drähten, die überall kreuz und quer gespannt sind und ein reichlich improvisiertes Stromnetz darstellen – die Plakate mit den Portraits von Vater und Sohn al-Sadr sind unübersehbar. Sie hängen an Hauswänden, an Moscheen und an Teestuben. Und mit entschlossenem Blick prangen die beiden sogar auf den Windschutzscheiben von vielen tausend Autos, die sich auf den staubigen und lärmenden Straßen von Sadr City drängen.

"Was machen Sie mit der Kamera? Wer hat ihnen erlaubt hier zu fotografieren?" fragt ein etwa 50-jähriger Mann, ohne sich irgendwie als Offizieller auszuweisen. Die Diskussion endet schlagartig, als wir erklären, dass wir mit dem Segen von Brahim Jawary hier sind. Der ist mittlerweile mit Gebeten beschäftigt, in der Moschee direkt gegenüber von seinem Büro.

"Wir leben hier gut, wir helfen einander und die Situation verbessert sich von Tag zu Tag", erzählt ein junger Mann, der aus seiner Zigarettenbude in der Chouadr Avenue, der Hauptverkehrsader von Sadr City, herausschaut. Hinter ihm an der Wand feiert ein Poster den Rückzug der Amerikaner vom letzten Dezember: "Die Zeit der Tyrannen ist vorbei, es ist Zeit für Aufbau und Wohlstand", lautet der Slogan darauf – flankiert ist der Text vom Abbild der beiden al-Sadrs und zweier Milizionäre, die mit Bazookas und Sturmgewehren bewaffnet sind.

Foto: DW/Karlos Zurutuza
"Zeit für Aufbau und Wohlstand" - zumindest auf dem PlakatBild: DW

Symbol für Inkompetenz und Korruption

Aber trotz der viele Millionen Dollar teuren Programme zum Wiederaufbau von Sadr City: Viele Häuser sind nach wie vor baufällig, die Stromversorgung ist mangelhaft und ab und zu werden die Straßen mit Abwässern überflutet, wenn einmal wieder irgendwo ein lange Zeit vernachlässigtes Rohr geplatzt ist. Ob die Müllabfuhr kommt, ist Glückssache. So stellen die Einwohner dann ihren Abfall einfach auf die Mittelstreifen der mit Schlaglöchern übersäten Straßen.

Viele meinen, dass der 38-jährige Geistliche Muktada al-Sadr den Aufbau einer Grundversorgung und die Organisation von weiteren Hilfen für die Bevölkerung stets ganz bewusst als Mittel benutzt hat, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Ob das nun stimmt oder nicht - der Vorort siecht immer noch dahin. Für viele gilt Sadr City als Symbol für politische Inkompetenz und Korruption. Überall fehlt es an grundlegender Infrastruktur.

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Sadr City - ein schwieriges Pflaster für Kinder und JugendlicheBild: DW

"Der ganze Bezirk ist absolut überbevölkert. In jedem Haus leben drei oder vier Familien", sagt Ali Jabar der DW. In der ungepflasterten Seitengasse spielen seine Kinder zwischen Müllsäcken und einem ausgebrannten Auto Fußball. "Die meisten von uns sind arbeitslos. Wir sind auf die Almosen von Verwandten und von Nachbarn angewiesen."

Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten

Der 52-Jährige zog in das Haus seines Bruders, nachdem das eigene von einer Rakete getroffen worden war. Andere sind vor Todesdrohungen geflohen - ausgesprochen von irgendeiner der unzähligen Milizen, die das Land immer noch im Griff haben. Mit der friedlichen Koexistenz zwischen den verschiedenen Religionen, die jahrzehntelang im Irak geherrscht hatte, war es spätestens 2006 vorbei: Seitdem wird die Bevölkerungsverteilung in Bagdad durch sektiererische Gewalt geformt.

Kadaa Jasib war einer der vielen, die sich unversehens zur falschen Zeit am falschen Ort befanden: "Wir lebten im Al-Mansur-Viertel, ein sunnitischer Bezirk im westlichen Bagdad – aber die Milizionäre gaben uns gerade einmal 48 Stunden, um unser Haus zu verlassen. Heute sind wir wieder im Haus meiner Eltern. Wir teilen uns 100 Quadratmeter mit zwei anderen Familien", berichtet Jasib. Zwischendurch lebte der 47-jährige Elektriker für drei Jahre in Syrien, bevor er wieder über den Tigris in Bagdads Armenviertel kam.

Ein sicherer Ort ist Sadr City jedenfalls nach wie vor nicht für jedermann: Seit Januar sind hier dutzende Homosexuelle zu Tode geknüppelt worden – lokale Nichtregierungsorganisationen und Zeugen glauben, dass Muktada al-Sadrs Milizionäre hinter den Attacken stecken.

Ölsee unter dem Armenviertel

Auch Abdullah Abbas ist ein Flüchtling, aber er genießt das rare Privileg ein Haus in Sadr City für sich allein zu haben. Er ist der Wächter des Jüdischen Friedhofs. Ein geweihter Ort, der von massiven Mauern umgeben ist – von Angehörigen der Verstorbenen wird er schon lange nicht mehr besucht. "Ich kam 2006 aus Mosul hierher. Ich musste wegziehen, weil die Aufständischen direkt hinter meinem Haus ihre Raketen abfeuerten", erzählt Abbas. Aus dem Fenster blickt er nun auf 3000 Grabsteine. Der Friedhofswächter ist Sunnit, aber mit einer Schiitin verheiratet. Er selbst sei in der schiitischen Hochburg Sadr City weder diskriminiert noch bedroht worden.

Paradoxerweise liegen die jüdischen Gräber möglicherweise über einem der größten Erdölvorkommen des Landes. Im letzten Monat teilte das Ölministerium mit, unter der Oberfläche von Sadr City befände sich ein gewaltiger Ölsee.

Foto: DW/Karlos Zurutuza
Schwere Zeiten für Iraker in Sadr CityBild: DW

Für den Taxifahrer Ayad Athary liegt darin eine böse Ironie des Schicksals. "Ich muss die Hälfte meines Einkommens für Treibstoff ausgeben, entweder für das Auto oder für den Stromgenerator zu Hause", klagt er aus seinem ramponierten Fahrzeug heraus. "Wer hätte nur gedacht, dass wir neun Jahre nach dem Sturz Saddams in einem solchen Elend leben würden?"