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Dschidda - ein Hauch von Liberalität

13. Juni 2020

Die Hafenstadt Dschidda an der saudischen Westküste unterscheidet sich von anderen Metropolen des Landes. Sie gilt als leichter, urbaner und lässiger. Die Historikerin Ulrike Freitag erkundet die Vorgeschichte der Stadt.

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Saudi Arabien | Alltagsszene
Dschidda heute - eine moderne Stadt mit multikultureller Vergangenheit Bild: picture-alliance/dpa/Sputnik/M. Voskresenskiy

Das Weltbild der Menschen mochte geordnet sein. Unberechenbar waren hingegen ihre Körper. Rund 150.000 Pilger strömten 1865 in die heiligen Stätten von Mekka und Medina, viele von ihnen über Dschidda, die Hafenstadt am Indischen Ozean. Ungehindert betraten sie den Boden der Halbinsel. Und ungehindert breiteten sich dort dann die Cholera-Bakterien aus, die sie im Körper trugen. Rasch griff die Krankheit um sich, rund 30.000 Pilger der Hadsch des Jahres 1865 erlagen der Krankheit.

In aller Brutalität verdeutlichte die Epidemie den Osmanen, die damals den Hedschas, den westlichen Teil der Golfhalbinsel beherrschten, wie gefährdet die Knotenpunkte ihres Reiches sein konnten. Auch und gerade Dschidda, die Stadt, die den Nahen Osten, Asien und Afrika miteinander verband, war ein Treffpunkt  von Menschen unterschiedlichster Herkunft und darum auch der Krankheiten, die sie mit sich trugen.

Saudi-Arabien | Dschidda | 1903
Die Stadt Dschidda im Jahr 1903Bild: imago images/United Archives International

Zwar hatten die Osmanen bereits 1850 erste Quarantäne-Maßnahmen zur Eindämmung von Seuchen ergriffen, doch die erwiesen sich als ungenügend. Hinzu kam die beschleunigte Mobilität: Mit Erfindung der Dampfschifffahrt verkürzte sich für viele Pilger, aber auch Kaufleute die Reise.

Pilger auf Dampfschiffen

Bislang hatten sie sich über Tage oder gar Wochen an Bord der Schiffe aufgehalten - und befanden sich so in einer Art natürlichen Quarantäne. Durch die motorbetriebenen Schiffe beschleunigte sich die Fahrt - und die bislang gewohnte Quarantänezeit wurde unterlaufen. Die Behörden brauchten eine Weile, um darauf zu reagieren. 1865 waren sie noch nicht so weit, noch fehlte es an vielem: an Hospitälern, Lazaretten, Apotheken und  Ärzten. So wurde die Pilgerfahrt jenes Jahres für viele Gläubige zur biologischen Falle.

"Tor nach Mekka"

Die Ausbreitung der Seuche ist eines der eindrücklichsten Beispiele, an dem sich der internationale Charakter Dschiddas bereits im 19. Jahrhundert ablesen lässt. Die deutsche Islamwissenschaftlerin und Historikerin Ulrike Freitag hat nun die Biographie der Stadt geschrieben. "A History of Jeddah. The Gate to Mecca in the Nineteenth and Twentieth Century" heißt sie, erschienen im Februar in der Cambridge University Press.

Ulrike Freitag, Direktorin des Zentrums Moderner Orient
Ulrike Freitag, Autorin des Dschidda-Buches und Direktorin des Zentrums Moderner Orient in BerlinBild: DW/H. Kiesel

Erst 1869 wurden Quarantänestationen und Lazarette in größerem Stil rund um Dschidda gebaut. Doch auch die brachten nicht den gewünschten Erfolg. Als 1882 auf der heute zum Jemen gehörenden Insel Kamaran eine größere Quarantänestation mit strengerem Reglement eingerichtet wurde, zeigte sich die britische Regierung beunruhigt: Sie fürchtete um den sozialen Frieden in den muslimisch besiedelten Teilen ihrer indischen Kronkolonie. Die Pilger, so die Sorge, würden eine allzu lange Quarantäne nicht hinnehmen - hinreichend Anlass für London, sich als Schutzmacht der Muslime zu präsentieren. Das Beispiel zeigt: Gesundheitspolitik muss nicht ausschließlich sanitären Überlegungen entspringen. Sie kann auch dazu dienen, die Bevölkerung symbolisch zu befrieden.

Weil aber insbesondere europäische Staaten - etwa Frankreich, Großbritannien, die Niederlande - auch den in den Folgejahren massiv ausgeweiteten Vorrichtungen vor Ort nicht trauten, schickten sie zum Schutz ihrer Repräsentanten eigenes medizinisches Fachpersonal in die Region. Epidemien sind nicht zuletzt Gradmesser internationaler Vernetzung.

Anziehungspunkt für "Fremde" von Indien bis Griechenland

Rund vier Millionen Einwohner hat die Stadt heute, rund 25.000 waren es im späten 19. Jahrhundert. Die Stadt, ehemals ein kleines Fischerdorf, zog frühzeitig Einwohner aus unterschiedlichsten Regionen an. "Fremde oder deren Nachfahren" beobachtete der Schweizer Orientreisende Johann Ludwig Burckhardt bereits während seiner Hedschas-Reise 1814.

Saudi-Arabien | Dschidda | 1930
Ein junger Beduine in Dschidda (Archivbild von 1930)Bild: Getty Images/Hulton Archive

Diese "Fremden" stammten aus allen nur erdenklichen Regionen: dem heutigen Jemen, Indien, Ägypten, Syrien, Nordafrika, den europäischen und anatolischen Provinzen des Osmanischen Reichs, dazu aus Afghanistan, Südostasien, Dagestan, Griechenland.

Viele waren als Kaufleute in die Stadt gekommen, so etwa Einwanderer aus Nordafrika, dem Jemen und Indien. Doch so unterschiedlich die geografische Herkunft auch war, die Einwanderer einte zweierlei: Zum einen waren sie nahezu sämtlich Muslime - und zum anderen orientieren sie sich überwiegend an einem ethnisch-kulturellen Modell: dem Arabischen.

Das konnte kaum anders sein, denn die alten Familien des Hedschas gaben weiterhin den Ton an.

Die Scherifen etwa, bis 1925 die Herrscher von Mekka, besaßen in Dschidda einen Markt, Zisternen sowie mehrere Häuser. Die Vormachtstellung dieser auf den Religionsstifter Mohammed zurückgehenden Familie prägte auch den sozialen und kulturellen - arabischen - Charakter der Stadt.

Sklaven und Zwangsarbeit

Hinzu kam eine weitere Bevölkerungsgruppe: die Sklaven. 1888 schätzte der französische Konsul in Dschidda den Anteil der aus Ost- und Westafrika deportierten Zwangsarbeiter an der Gesamtbevölkerung auf etwa ein Fünftel. Hoch war die Nachfrage nach weiblichen Sklaven. Diese wurden wesentlich im Haushalt eingesetzt und zwar, wie ein osmanischer Verwaltungsbeamter jener Zeit erklärte, aus vor allem religiösen Gründen: "Muslimische Frauen fallen als Bedienstete aus, weil sie mit verhüllten Gesichtern nicht arbeiten können. Würden sie ihr Gesicht enthüllen, bräche dies das Gesetz des Koran. Christliche Frauen können ebenfalls nicht engagiert werden - dies wäre eine Verschmutzung."

Helle Haut und Lustbefriedigung

Wo sie nicht zur Hausarbeit gezwungen wurden, wurden die Frauen zu anderer Arbeit gezwungen: Entweder dienten sie ihren Herren zur Befriedung sexueller Lust. Oder sie sollten ihnen Kinder gebären, vorzugsweise männliche Nachfolger. Brachten die Sklavinnen hingegen wiederholt Mädchen zur Welt, mussten sie damit rechnen, verkauft zu werden. Ein Weiteres lag den Sklavenhaltern von Dschidda am Herzen: Ihre Nachfahren sollten eine möglichst helle Haut haben.

"Eine hochstehende Persönlichkeit ("A notable") von Dschidda im späten neunzehnten Jahrhundert soll Dutzende von Sklaven besessen haben, weil er verzweifelt nach einem Sohn suchte", heißt es in Freitags Studie. "Da er selbst ausgesprochen dunkle Haut hatte, kaufte er syrische, armenische und andere Sklavinnen von heller Haut."

Saudi-Arabien Konzert Janet Jackson in Dschidda
Auch heute eine der liberalsten Städte Saudi-Arabiens: Fans bei einem Konzert 2019 von US-Popstar Janet JacksonBild: picture-alliance/AP Photo/K. Alhaj

Zukunftsmodell Dschidda?

"Dschidda ist anders", erklärt heutzutage ein Werbeslogan der saudischen Tourismusagentur. Und wirklich, schreibt Ulrike Freitag, unterscheidet sich der leichte, lebhafte Charakter der Stadt vom strengen Charakter anderer saudischer Metropolen. Die multikulturelle Identität der Stadt war nie eine reine Idylle. Aber sie verschaffte ihr einen Hauch von Liberalität, der sich bis heute erhalten hat. Es dürfte kein Zufall sein, dass sich die erste, im vergangenen Sommer eröffnete Diskothek des Landes in Dschidda befindet. Die Vielfalt der Stadt könnte mit Blick auf die zuletzt vorangetriebenen vorsichtigen gesellschaftlichen Lockerungen und Reformen wegweisend für die Zukunft des Königreichs werden.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika