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Politik

"Quantensprung zu mehr Gerechtigkeit"

28. November 2017

Mit dem Urteil gegen ehemalige Anführer der bosnischen Kroaten beendet das Haager Tribunal seine Arbeit. Die Verdienste für die internationale Gerichtsbarkeit sind enorm, meint der ehemalige Richter Wolfgang Schomburg.

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Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag
Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag Bild: picture-alliance/dpa/M. Beekman

Deutsche Welle: Herr Schomburg, welche Absichten hatte die internationale Gemeinschaft im Mai 1993, als im UN-Sicherheitsrat entschieden wurde, den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) zu gründen?

Wolfgang Schomburg: Damals hatten mehrere Wissenschaftler so viel Beweismaterial über fürchterliche verbrechen in früheren Jugoslawien zusammengetragen, dass der Sicherheitsrat gar nichts anderes tun konnte als einen sogenannten Ad-hoc-Strafgerichtshof einzurichten. Das war der Versuch, im Einklang mit der UN-Charta Frieden zu schaffen, und zwar nicht durch eine militärische Intervention, sondern mit Mitteln des Rechts. Der UN-Sicherheitsrat hat aufgrund der Charta verschiedene Möglichkeiten, um einer Situation, die den Frieden bedroht, zu begegnen. Dies war das erste Mal, dass man zu solchen Zwecken ein Ad-hoc-Gericht, also nur für diesen Fall, eingerichtet hat.

Das Haager Tribunal, wie dieses Gericht auch genannt wird, hatte also kein Vorbild?

Nein, das war ein Novum. Für alle, die mit dieser Thematik schon lange vorher beschäftigt gewesen waren, kam das wie aus heiterem Himmel, ein Traum wurde plötzlich wahr. Das Gericht sollte zeigen, dass keiner über dem Recht steht, und dass jeder zu Verantwortung zu ziehen ist, unabhängig davon, welche Rolle er in der Politik, im Militär oder sonstwo für ein Land gehabt hat. Das war ein Quantensprung auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit.

Was waren die größten Erfolge des Haager Tribunals?

Das Tribunal hat gezeigt, dass man auch gegen die Großen vorgehen kann, dass nicht gilt "die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen". Wir haben am Anfang eher die Verfahren gegen die sogenannten "Kleineren" gehabt, so etwa gegen einige Aufseher in den Gefangenenlagern. Und wir konnten sie zur Verurteilung bringen. Danach hat man sich Stück für Stück hocharbeiten können und aufgrund der Beweise, die in anderen Verfahren angesammelt waren, konnte man ein Mosaik zusammenstellen. So war es möglich, sowohl Mladic als auch Karadzic zu Verurteilung zu bringen. Das ist ein unglaublicher Erfolg dieses Tribunals. Ich bin überzeigt, dass man später erstaunt sein wird, dass ein Gericht, das sozusagen aus dem Nichts entstand, so eine Leistung hervorgebracht hat.

Und was würden Sie als größten Fehler oder Misserfolg des Tribunals bezeichnen?

Es gibt sicher sehr viele Dinge, die man hätte besser machen können, aber das war das erste Mal, und keiner ist wirklich vorbereitet gewesen. Da kamen Staatsanwälte und Richter aus aller Welt zusammen, mit unterschiedlichem juristischem und beruflichem Hintergrund, und nicht alle waren ohne weiteres qualifiziert für diese Arbeit. Und es stellt sich auch die Frage, ob es richtig war, das anglo-amerikanische Recht zu verwenden. Das hat einmal zu einigen Verfahrensschwierigkeiten geführt, aber auch in der Region zu Schwierigkeiten für das Verständnis einiger Verfahren. Aber das sind doch mehr oder weniger Kleinigkeiten, wenn man das Gesamtergebnis vor Augen hat. Denn hier konnten tatsächlich zum ersten Mal auch Straftaten während des Krieges mit den Mitteln des bestehenden Rechtes bekämpft werden. Das war der besondere Quantensprung.

UN Richter - Wolfgang Schomburg
Wolfgang Schomburg war Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und am Internationalen Strafgerichtshof für RuandaBild: picture-alliance/dpa

Insbesondere in Kroatien und in Serbien werden die Urteile des Tribunals als schädlich für die eigene Nation gesehen.

Das liegt sicherlich zum einen in der menschlichen Natur: Man möchte es nicht wahrhaben, dass im eigenen Land von einzelnen Personen die schwersten Straftaten begangen wurden. Man denkt gleich im Kollektiv. Wenn das Urteil im eigenen Sinne war, findet man es gut, und wenn es anders war, ist es schlecht. Aber hier ging es immer um die individuelle Schuld einzelner Personen. Das kenne ich übrigens auch aus dem normalen Strafrecht: Wer unterliegt, ist mit dem Gericht höchst unzufrieden. Was aber sehr wichtig war, ist, dass die Opfer zu Wort gekommen sind. Gerade von vielen Opferverbänden habe ich das immer wieder gehört. Das ist das Wichtigste. Die Opfer hatten zum ersten Mal wieder die Möglichkeit, mit den Tätern im Gerichtssaal konfrontiert zu werden. Es war manchmal schwer erträglich zu sehen, wie die Opfer versuchten, den Angeklagten ins Gesicht zu schauen, und die Angeklagten sich abwandten, weil sie diesen Kontakt im Gerichtssaal einfach nicht aushielten. Keiner der Angeklagten hätte jemals geglaubt, dass er wegen seiner Taten einmal vor einem ordentlichen Gericht stehen würde und Rechenschaft ablegen müsste.

Welche Rolle hat das Haager Tribunal für das Völkerrecht gehabt?

Ein Jahr nach dem Jugoslawien-Tribunal wurde das Ad-hoc-Gericht für Ruanda als ein Schwestergericht eingerichtet. Das Statut entspricht fast wortwörtlich dem Jugoslawien-Tribunal. Insofern hatte es schon eine Vorbildfunktion. Aber auch die Rechtsmittelkammer für die beiden Gerichte wurde zusammengesetzt. Dadurch wurde bewirkt, dass die Rechtsprechung weitgehend in dieselbe Richtung lief. So mussten auch die Richter versuchen, eine gemeinsame Linie zu finden, und das ist oft gelungen. Auch für die weitere Rechtsprechung der internationalen Gerichte hat dann die Arbeit des ICTY eine Relevanz, so etwa für den ständigen Internationalen Gerichtshof ICC. Es wird nicht alles blind übernommen, aber einiges wird mit einbezogen. Das Haager Tribunal hat jedenfalls deutliche Spuren hinterlassen. Und dazu gehören auch zahlreiche Dokumente, die jetzt da sind. Viele Historiker vergleichen jetzt ihre eigenen Forschungen mit dem, was in den Urteilen festgehalten wurde. Und sie sind dankbar für das Material, zu dem sie sonst keinen Zugang hätten. Ich bin davon überzeugt, dass eines Tages ein Geschichtsbild entstehen wird, das auch von der Feststellung der Urteile getragen ist.

Einige Urteile wurden dann aber im Berufungsverfahren revidiert. So wurde der kroatische General Ante Gotovina in der ersten Instanz zu 24 Jahre Freiheitsstrafe verurteilt, aber nach dem Berufungsverfahren freigelassen. Oder der Serbische General Momcilo Perisic, der zunächst 27 Jahre bekam und dann auch freigelassen wurde. Wie kam es dazu?

Haager Tribunal Urteil Kroaten aus Bosnien und Herzegowina
Das letzte Urteil des Haager Tribunals fällt im Berufungsverfahren gegen sechs ehemalige Anführer der bosnischen KroatenBild: Getty Images/AFP/J. Buller

Für mich als Juristen sind die Begründungen für die Freisprüche der Rechtsmittelkammer in diesen Fällen, die zeitlich unmittelbar zusammenhängen, nicht nachvollziehbar. Da fragt man sich, warum ist das geschehen? Die Antwort kann ich nicht geben, und aus juristischer Sicht kann ich diese Rechtsmittelurteile nicht verstehen.

Mit dem Urteil im Berufungsverfahren im Fall der sechs bosnischen Kroaten am Mittwoch beendet das Haager Tribunal faktisch seine Arbeit nach fast 25 Jahren. Hat das Tribunal seine Aufgaben erledigt?

Aus meiner Sicht auf jeden Fall. Von 161 Angeklagten wurden 151 Verfahren geführt, bei den restlichen handelt es sich um Personen, die verstorben sind, oder ihre Fälle wurden abgegeben. Es sind also alle Fälle abgearbeitet worden. Gleichzeitig hat man eine unglaubliche Rechtsfortbildung geschaffen, und, was für das ehemalige Jugoslawien das Wichtigste ist, man hat sehr, sehr viele Tatsachen feststellen können, die ein vernünftig denkender Mensch nicht mehr bestreiten kann.

Aber andererseits ist die Arbeit eigentlich nicht beendet. Es ist nicht klar, warum man davon abgesehen hat, die bestehenden Gerichte langsam zu verschlanken, nämlich in dem Maße, wie die Arbeit weniger wurde, und sie dann wirklich auch bis zum Ende durchzuführen. Stattdessen wurde der sogenannte Internationale Residualmechanismus eingeführt. Da sollen dann die verbleibenden Arbeiten der beiden Gerichte für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda bearbeitet werden. Ich vermag nicht zu erkennen, welchen Vorteil das hat. Ganz im Gegenteil. Wenn man während des Rennens die Pferde wechselt, ist das immer schlecht. Hier müssen jetzt neue Richter gewählt werden, es wird wieder viel Zeit vergeudet, bis sie sich einarbeiten. Ich habe den Eindruck, dass es politische Gründe sind, die dazu geführt haben, dass die Tribunale aus meiner Sicht zu früh geschlossen wurden.

Wolfgang Schomburg (69) war Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe und von 2001 bis 2008 der erste deutsche Richter am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Er war ebenfalls bis 2008 Richter am Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda in Arusha.  

Das Gespräch führte Zoran Arbutina.