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Als Lodz deutsch wurde

Katarzyna Domagala-Pereira | Katarzyna Pruszkowska-Sokalla
4. Oktober 2019

Nach dem Überfall auf Polen sollte aus Lodz eine deutsche Stadt werden. Für den Oberbürgermeister Werner Ventzki waren das "die besten Zeiten". Im Geiste hat er Litzmannstadt und die NSDAP nie verlassen.

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Treffen von Jens-Jürgen Ventzki (links) mit Natan Grossmann
Treffen von Jens-Jürgen Ventzki (links) mit Natan Grossmann, einem Holocaust-ÜberlebendemBild: DW/A. Macioł

Eine ungewöhnliche Freundschaft

Frankfurt im Frühling 1990. Jens-Jürgen Ventzki ahnt nicht, dass der Tag, an dem er die Ausstellung über das Lodzer Ghetto besichtigt, der Anfang seiner inneren Wandlung wird.

Fotografisch dokumentierte der Buchhalter Walter Genewein die Arbeit im Ghetto. Jens-Jürgen schaut auf ernste Gesichter, viele davon noch Kinder.

Und dann steht er vor der Kopie eines Briefes der NSDAP, Gauleitung Wartheland, gerichtet an "Herrn Oberbürgermeister Ventzki, Litzmannstadt". Es geht um "die Abgabe von gebrauchten Textilien, die im Zuge der Judenaktion frei werden", die Kleidung der Juden, die im Vernichtungslager Kulmhof vergast wurden. "Zur Rücksprache mit Herrn Biebow", notierte Werner Ventzki. Hans Biebow war Leiter der deutschen Ghettoverwaltung und unterstand direkt dem Oberbürgermeister. Eine Woche später antwortete Ventzki, dass die "restlos verlausten" Kleidungsstücke desinfiziert und dem Winterhilfswerk zur Verfügung gestellt werden.

"Langsam war mir klar, dass mein Vater nicht nur von der Vernichtung der Juden wusste, sondern auch daran teilgenommen hat", sagt Jens-Jürgen Ventzki. Der Sohn brauchte noch zehn Jahre, bis er sich wagte, die Wahrheit herauszufinden.

Ventzkis Hoffnung

8. September 1939. Eine Woche nach dem deutschen Überfall auf Polen erobert die Wehrmacht Lodz, die Teil des Reichs-Gaus Wartheland wird. Auf Hitlers Befehl wird der eingedeutschte Name "Lodsch" durch "Litzmannstadt" ersetzt.

An die Spitze soll ein neuer Mann, der die Politik des Gauleiters Arthur Greiser vor Ort umsetzt. "Greiser wollte aus Wartheland ein Muster-Gau und aus Litzmannstadt eine deutsche Stadt machen", erklärt der Historiker Jakub Parol aus dem Museum der Unabhängigkeitsbewegung in Lodz.

Natan Grossmann, Holocaust-Überlebender aus Lodz
Natan Grossmann, Holocaust-Überlebender aus LodzBild: DW/Anna Macioł

Auf Greisers Empfehlung kommt der 35-jährige Werner Ventzki. Ein Getreuer des Führers, der seit 1931 in der NSDAP ist. Hitler schätzt seine Treue und verleiht ihm später das goldene Parteiabzeichen. Der neue Oberbürgermeister hat noch ein Talent - er kann Reden halten. Als Propagandasprecher des Reiches erreichte er die höchste Stufe und wurde Stoßtrupp-Redner. Bei Kundgebungen konnte er Menschenmengen begeistern, prahlte er nach dem Krieg. Seine Amtszeit sollte zwölf Jahre betragen, bis Mai 1953.

"Litzmannstadt in eine deutsche Stadt zu verwandeln - das hat ihn wohl am meisten motiviert", sagt Ventzkis Sohn. "In der Praxis bedeutete das Unterwerfung der polnischen Bevölkerung und Ausrottung der Juden", erklärt Jakub Parol.

Polen als Sklaven

In Litzmannstadt sollen hauptsächlich Deutsche wohnen. Ende 1939 beginnen große Umsiedlungsaktionen. Etwa 40.000 Deutsche kommen in die Stadt. Polen werden in Massen in das Generalgouvernement versetzt. Diejenigen, die bleiben, müssen in minderwertige Stadtteile umziehen. Und arbeiten. Laut Besatzer waren bereits Kinder ab 14 Jahren für schwere Arbeit geeignet.

Einschränkungen sollen den Alltag der Polen behindern. Sie können nur zu bestimmten Zeiten einkaufen und die Liste der für sie verbotenen Produkte wird immer länger. Die Deutschen verbieten den Gebrauch von Autos und erlauben Fahrräder nur Pendlern. In Stadtbahnen dürfen Polen nur den zweiten Wagen nutzen.

Lodz Übergabe des neuen Stadtwappens, OB Werner Ventzki am Rednerpult
Lodz Übergabe des neuen Stadtwappens, OB Werner Ventzki am Rednerpult Bild: bpk/Alfred Kiss

Um heiraten zu können, müssen Polen 28 Jahre alt sein, Polinnen 25. "Die Politik der Besatzer war klar: Polen sollen sich nicht vermehren, sie werden nur als Arbeitskräfte für die Deutschen gebraucht", so Parol.

Auch das geistige und kulturelle Leben ist betroffen. Die meisten Kirchen werden geschlossen. Den Polen war es sowohl verboten Theater, Kinos und Museen zu besuchen, wie auch Plattenspieler und Musikinstrumente zu besitzen. Sie waren für die Besatzer eine niedere Rasse - die "Untermenschen".

Hinter dem Stacheldrahtzaun

Noch weiter unten in der Rassenhierarchie standen die Juden. Im Februar 1940 wurde für sie ein Ghetto eingerichtet. Zwei Monate später war es schon von der Außenwelt isoliert und von der deutschen Polizei kontrolliert. 160.000 Juden wurden auf vier Quadratkilometer zusammengepfercht. 

In Ghettobetrieben sollten sie für die "Herrenmenschen" produzieren. Der damals 14-jährige Leon Weintraub arbeitete im Metallressort. "Zwölf Stunden Arbeit mit einer Pause für eine dünne Suppe, dann dachte man nur darüber nach, wie man nach Hause kommt. Im Winter haben wir gefrorene oder faule Kartoffeln gegessen", erinnert sich Weintraub, der heute in Schweden lebt.

Im gleichen Ressort arbeitete Natan Grossmann. "Wenn ich von der Arbeit kam, sagte ich: Mama, ich habe Hunger. Sie hat mir ihr Essen gegeben. Und starb vor Hunger, in meinen Händen", erzählt er. Natan war damals 15 und hatte sonst niemanden. Sein Vater wurde ermordet, der ältere Bruder in Kulmhof vergast.

"Väter und Mütter - gebt mir eure Kinder!"

Das Ghetto im September 1942. Die Deutschen fordern die Ausweisung von 20.000 Juden. Der Vorsitzende des Judenrates Mordechai Chaim Rumkowski soll eine Liste der "unproduktiven" Bewohner erstellen. Es waren Kinder bis zehn Jahre, Kranke und Alte. "Väter und Mütter - gebt mir eure Kinder!", rief Rumkowski und verhängte die "Allgemeine Gehsperre".

Der Oberbürgermeister von Litzmannstadt Werner Ventzki bei einem Ortstermin am 19.06.1943
Der Oberbürgermeister von Litzmannstadt Werner Ventzki bei einem Ortstermin am 19.06.1943Bild: Muzeum Komunikacji Miejskiej MPK-Łódź/W. Genewein

"Polizisten umzingelten die Häuser, gingen von Wohnung zu Wohnung und nahmen die Kranken, Kinder und Alten. Skrupellos, ohne Gnade, nahmen sie sie ihren Familien und zogen Babys aus den Armen der Mütter. Nach einigen Tagen war das Ghetto um ein Drittel kleiner", erinnert sich Weintraub.

Die Juden kamen nach Kulmhof und wurden in Gaswagen ermordet. Leon Weintraub und Natan Grossmann überlebten. Sie waren 15 und 14, als sie der Gehsperre entgehen konnten.

Immer Litzmannstadt

Auf der anderen Seite des Zaunes kommt am 13. März 1944 Jens-Jürgen Ventzki zur Welt. Die Familie wohnt in einer Villa, mit Köchin und Haushälterin. Im Ghetto sterben an diesem Tag 22 Personen.

Jens-Jürgen hörte als Kind, dass seine Eltern über "Litzmannstadt" reden. Nie von "Lodz". Für sie waren es "die besten Zeiten". Der Vater war fasziniert von der Idee der Eindeutschung. Nach diesem Muster richtete er sein Familienleben, unterstützt von seiner Frau Erna-Maria, der ehemaligen Kommandantin des Bundes Deutscher Mädchen und seit 1932 Parteimitglied. Nach dem Krieg mäßigte sie zu Hause alle Gespräche über die Vergangenheit und versicherte, dass sie "nichts wusste".

Einverständnis zum Mord

Welche Verantwortung trägt Werner Ventzki für die Verbrechen im besetzten Lodz? "Er war ein überzeugter Nazi", sagt Jens-Jürgen über die Ergebnisse seiner Recherche. "Er trug stolz die braune Uniform der Partei und später der Waffen-SS, unterzeichnete Dokumente der Ghettoverwaltung. Er wusste von der Vernichtung der Juden und hat mitgemacht", betont er.

Ein Brief beweist es. Im März 1942 schrieb Ventzki aus dem Urlaub an seinen Vertreter, den Bürgermeister Marder: "Es wird sich ja alsbald herausstellen, ob die nichtarbeitsfähigen reichsdeutschen Juden uns verbleiben (...), oder ob sie mit unter die ‚Aktion‘ fallen. Ich persönlich glaube das Letztere und damit wäre die Sache in der Tat erledigt".

Jens-Jürgen fällt es schwer, die Tränen aufzuhalten: "Hier steht schwarz auf weiß: Einverständnis zum Mord", sagt er. In seiner Erzählung tritt Werner Ventzki als überzeugter Täter auf, der mit "Aktion" die Vergasung der Juden umschreibt und den Völkermord als "Erledigung der Sache" sieht.

Als Vater war er aber auch fürsorglich, er konnte lustig sein, erinnert sich sein Sohn. Es fällt ihm schwer, diese beiden Personen in Einklang zu bringen. "Ich habe zwei Väter: einen liebevollen, den ich aus meiner Kindheit kenne, und den Kriegsverbrecher. Ich muss damit leben", sagt Jens-Jürgen Ventzki.

Schuld ohne Sühne

"Nicht nur Sipo, die Sicherheitspolizei, sondern auch die Zivilverwaltung spielte eine wichtige Rolle bei der Verwaltung des Ghettos. Die deutsche Justiz behandelte dies nicht als Mitschuld am Mord", erklärt Peter Klein, Professor am Touro College in Berlin. Er ist sicher: Wäre Ventzki in Polen vor Gericht gestellt worden, hätte er ein Todesurteil erhalten.

Werner Ventzki mit seinem Sohn Jens-Jürgen in Obersdorf, Sommer 1956
Werner Ventzki mit seinem Sohn Jens-Jürgen in Obersdorf, Sommer 1956 Bild: arch. Jens-Juergen Ventzki

Wie Hans Biebow, der 1947 in einem Brief schrieb: "Ghettoleiter bin ich nicht gewesen, sondern habe lediglich im Auftrage des Oberbürgermeisters (…) für die Beschäftigung und Ernährung im Ghetto gesorgt".

Werner Ventzki wurde nie bestraft. Die Staatsanwaltschaft Hannover leitete zwar 1961 eine Ermittlung ein, beendete sie jedoch nach einigen Monaten. In der Bundesrepublik konnte Ventzki seine Beamtenkarriere fortsetzen.

Mittagessen beim Führer

Ventzki blieb für den Rest seines Lebens ein überzeugter Nazi. Im Geiste ist er nie aus der NSDAP ausgetreten. Er empörte sich, dass man ihn im Entnazifizierungsverfahren "nur als Mitläufer" bezeichnete. Bei einer Familienfeier gab er an, Hitler zweimal in der Reichskanzlei besucht zu haben. Er war stolz, dass er bei einem Mittagessen neben ihm Platz genommen hat.

"Diese Erzählungen haben uns nur abgestoßen", sagt Jens-Jürgen. Er hat aber die Chance verpasst, seinen Vater zu Antworten zu zwingen. Für diese Konfrontation war er nicht bereit. "Später brauchte ich ihn nicht mehr, ich hatte Dokumente, die für ihn sprechen", betont er.

Heute ist Jens-Jürgen ein häufiger Gast in Synagogen. An Schulen und Universitäten spricht er über seinen Vater, den Nazi. Er hat viele jüdische Freunde, auch Natan Grossmann gehört zu ihnen. "Versöhnung?", fragt Jens-Jürgen. "Ich kann mich mit Natan nicht versöhnen, weil das eine andere Ebene ist. Ich kann nur die Verantwortung übernehmen und darüber reden".

Sein Vater hat eine solche Wandlung nie erlebt. 2002, zwei Jahre vor seinem Tod betonte er "Antikommunist, Antidemokrat und Antisemit" zu sein. Damals war er 96 Jahre alt.

Aus der Reportage-Reihe "Schuld ohne Sühne". Ein Projekt von DW-Polnisch mit Interia und Wirtualna Polska. dw.com/zbrodniabezkary

Kommentarbild Katarzyna Domagala-Pereira
Katarzyna Domagala-Pereira Journalistin und Publizistin, stellvertretende Leiterin von DW-Polnisch.