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Europäische Presseschau

1. Juni 2010

Der überraschende Rücktritt des deutschen Bundespräsidenten ist nur wenigen europäischen Zeitungen einen Kommentar wert, da das politische Gewicht des deutschen Staatsoberhaupts in Europa eher gering ist.

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Bild: DW

Die Neue Zürcher Zeitung aus der Schweiz bescheinigt Horst Köhler einen "schwachen Abgang". Ein deutscher Bundespräsident agiere nicht im politikfreien Raum, schreibt das Blatt: "Sein Amt ist eine Verpflichtung, und wer dieser nicht mit einem Mindestmaß an Resonanz nachkommt, wird sich nicht wundern müssen, wenn er mit der Zeit in das Räderwerk des parteipolitischen Dauerstreits gerät. Genau dies ist Horst Köhler passiert. Seine Gegner mögen kleingeistig, streitsüchtig und durchsichtig agiert haben. Aber im Wesentlichen liegt der Fehler bei ihm selber... Der Rücktritt mag ein Rätsel bleiben. Schade um die Person. Aber auch schade um das Amt."

Die bulgarische Zeitung 24 Taschassa kommentiert, der Rücktritt sei ein Schock für alle gewesen, vor allem aber für die deutsche Regierungschefin Angela Merkel: "Binnen einer Woche ist Köhler der zweite wichtige Politiker, der Merkels Lager in dieser für sie schwierigen Zeit verlässt. Vor wenigen Tagen trat auch Hessens Regierungschef Roland Koch zurück."

Die in Wien erscheinende Zeitung Die Presse fragt in ihrem Kommentar, welcher österreichische Politiker wohl wie Horst Köhler zurücktreten würde, wenn er sein Amt beschädigt sehe. Offenbar keiner, denn die Presse schreibt weiter: "Wo in Österreich zu wenig Sensibilität herrscht, herrscht in Deutschland zu viel Dünnhäutigkeit." Der deutsche Bundespräsident habe sechs Jahres versucht, sich in seinem Amt zurechtzufinden: "Der große Bonus des einstigen IWF-Chefs war auch sein größtes Handicap: Er kam nicht aus der aktiven Politik. Das verlieh ihm Frische und Glaubwürdigkeit. Von der Notwendigkeit, in politischen Kategorien zu denken, entbindet es nicht."

Die polnische Zeitung Rzeczpospolita kritisiert, Horst Köhler habe offenbar die Komplexität der Politik nicht verstanden: "Er hat das Amt in einer Zeit verlassen, in der sich das Schicksal des Euro und die Zukunft der Währungsunion entscheiden. Bei dieser Gelegenheit zeigte er eine bisher unbekannte Charaktereigenschaft: Er konnte mit der Kritik, ohne die es keine Demokratie gibt, nicht umgehen... Köhlers Ziel war es, das höchste Staatsamt würdig auszuüben. Das ist aber keine Aufgabe für Überempfindliche."

Anleger hatten nach Ansicht eines Börsenhändlers in Frankfurt am Main übrigens Glück, dass am Tag des Rücktritts die Börsen in New York und London wegen eines Feiertags geschlossen waren. Ansonsten hätte der Rückzug des ehemaligen IWF-Chefs und Finanzexperten den Eurokurs belasten können. Insgesamt wachse die Unsicherheit über die politische Entwicklung der Regierungskoalition in Berlin. "Kein Anreiz für Aktienkäufe in Deutschland", so der leitende Wertpapierhändler Fidel Helmer.

Autor: Bernd Riegert (dpa, rtr)
Redaktion: Julia Kuckelkorn