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"Sein Tod hinterlässt ein Vakuum"

28. Oktober 2010

Der Tod des früheren argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner hat in den Kommentarspalten der internationalen Presse großen Raum eingenommen. Vom Verlust eines großen Staatsmannes ist fast einhellig die Rede.

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Bild: DW

Die argentinische Tageszeitung El Clarín schreibt zum Tod von Néstor Kirchner:

"Auf denkbar schlimmste Weise ist die einzige Gewissheit am Horizont der argentinischen Politik zusammengebrochen. Néstor Kirchner wird das Machtprojekt, dass er geschickt in der Zeit nach der großen Krise 2001/02 geschmiedet hatte, nicht fortführen können. Sein Tod wirft darüber hinaus zahlreiche Fragen auf, unter anderem auch die nach dem Stil der Regierung von Cristina Fernández ohne Kirchner.

Die Präsidentin und der Ex-Präsident haben als politisches Paar perfekt funktioniert. Kirchner war ohne Zweifel der Architekt der Macht, der Mann, der Verträge schloss und löste und der die strategischen und taktischen Richtlinien der Regierung entwickelte. Seine Frau und jetzige Präsidentin Cristina hingegen hat stets den intellektuellen Unterbau für Entscheidungen geliefert, die ihr Mann oft eilig oder aus einer Laune heraus getroffen hat."

Der Kommentator der Zeitung Página 12, ebenfalls aus Buenos Aires, schreibt, selbst Kirchner-Kritiker müssten anerkennen, dass Argentinien unter dem jetzt verstorbenen ehemaligen Präsidenten die bester Regierung seit dem Ende der Diktatur gehabt habe:

"Kirchner hat dem Staat eine starke Rolle in der Wirtschaftspolitik zurückgegeben. Er hat eine gute Außenpolitik verfolgt und in Sachen Menschenrechte viel erreicht. Jetzt stellt sich die Frage, wie es weiter geht: Präsidentin Cristina ist ohne Zweifel eine Macherin, aber sie hat ihren Kopiloten verloren, einen Mann, der die Politik wieder handlungsfähig gemacht hat, der sich dem Druck der Lobbyisten widersetzt hat und der die Medien in ihre Schranken verwiesen hat."

Wie in Argentinien ist auch in zahlreichen anderen lateinamerikanischen Ländern eine dreitägige Staatstrauer verhängt worden, darunter auch in Brasilien. Die Tageszeitung O Globo aus Sao Paulo beschäftigt sich mit der politischen Zukunft Argentiniens:

"Der plötzliche Tod von Néstor Kirchner wird Veränderungen in der Regierung seiner Frau und Nachfolgerin Cristina, in der Regierungspartei Partido Justicialista sowie in allen politischen Lagern auslösen. Kirchner war ohne Zweifel der einflussreichste Politiker des Landes und alles deutete darauf hin, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2011 als Kandidat antreten würde.

Jetzt, ohne Kirchner, wird sowohl die Regierung als auch die Opposition die Karten neu mischen müssen. Kirchner war der große Stratege hinter Präsidentin Cristina Fernandez. Aber die Staatschefin sollte nicht unterschätzt werden: sie wird weiter regieren und sie gilt im Moment als die aussichtsreichste Kandidatin für das Regierungslager. Die Frage ist jetzt, ob sie emotional stark genug sein wird, einen Wahlkampf ohne ihren Weggefährten der letzten 35 Jahre zu führen."

Im kleinen Nachbarland Uruguay hat Néstor Kirchner während seiner Amtszeit wenige Sympathien genossen. Der Streit um den Bau einer Zellulosefabrik auf der argentinischen Seite des Grenzflusses zwischen beiden Ländern hatte zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zwischen beiden Ländern geführt. Die Tageszeitung El País aus Montevideo schreibt dazu:

“Man kann Kirchner sicher vieles vorwerfen, aber beileibe nicht, dass er es nicht geschafft hätte ein politisches Imperium auf Ruinen aufzubauen. Er wusste meisterhaft die Schwächen seiner Gegner auszunutzen. Am deutlichsten hat er das an George W. Bush vorgemacht. Er lernte den US-Präsidenten kennen als dieser auf dem Höhepunkt seiner Bliebtheit im eigenen Land war. Kirchner bestand darauf ihn im Weißen Haus zu besuchen und versicherte ihm, er sei kein Linker, sondern Peronist. Die Charmeoffensive endete abrupt auf dem Amerika-Gipfel in Mar del Plata 2005, als Kirchner den überraschten Bush öffentlich demütigte und seinem Projekt einer Gesamtamerikanischen Freihandelszone eine klare Absage erteilte. Was war passiert? Der Irak-Krieg hatte die Popularitätskurve des US-Präsidenten in den Keller stürzen lassen – er war ein leichtes Opfer für Kirchner."

In Chile schreibt die Tageszeitung La Tercera, der Tod von Néstor Kirchner hinterlasse ein großes Machtvakuum in Argentinien und ganz Lateinamerika.

“Das politische Handeln des früheren Präsident hat sich stets dadurch ausgezeichnet, dass Kirchner sich unermüdlich der größten Herausforderung der Politik gestellt hat: gegen die Bedeutungslosigkeit anzukämpfen. Er war ein Machtmensch. Aber er wollte die Macht um sie für seine Ziele einzusetzen. Das war seine Motivation.

Auch seine schärfsten Gegner werden nicht leugnen können, dass Kirchner einen bedeutenden Beitrag zum Wiederaufbau Argentiniens geleistet hat. Er hat die Regierung übernommen als kaum einer sich an diese heikle Aufgabe wagte. Er war der Architekt der wirtschaftlichen Erholung, die das Land in den letzten zehn Jahren erlebt hat. Als Argentinien 2001/02 beinahe auseinanderfiel, war es Kirchner, der das Land wieder auf Wachstumskurs brachte, der Jobs schaffte und die Armut drastisch gesenkt hat.”

Die spanische Tageszeitung El País bescheinigt Néstor Kirchner ebenfalls eine große Leidenschaft für die Politik:

“Kirchner hat für und durch die Politik gelebt. Um so erstaunlicher, dass er als durch und durch politischer Mensch so wenig rational reagierte. Wer nicht für ihn war, war gegen ihn, und das hat er seinen immer kleiner werdenden Mitarbeiterkreis deutlich spüren lassen. Kirchner wird in die Geschichte eingehen als der Präsident des argentinischen Wirtschaftswunders, als der Mann, der mit offenem Jackett das Bad in der Menge genießt. Für ihn war die Politik nie ein Spiel, sondern stets eine Schlacht. Und als Präsident hat er nie eine Pressekonferenz gegeben.”

Autorin: Mirjam Gehrke
Redaktion: Oliver Pieper