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100 Tage Angst

Stefanie Duckstein23. Juli 2014

Die Kritik an Nigerias Regierung reißt nicht ab: Vor drei Monaten entführte die Terrorsekte Boko Haram mehr als 300 Schülerinnen in der nordnigerianischen Stadt Chibok. Die meisten Mädchen sind immer noch verschwunden.

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Nigeria Protest Boko Haram Entführung (Foto: (AP Photo/Sunday Alamba))
Bild: picture-alliance/AP Photo

Vor genau 100 Tagen, in der Nacht vom 14. zum 15. April 2014, halten mehrere Lastwagen vor der Government Secondary School in Chibok im Bundesstaat Borno. Mitglieder der Terrorsekte Boko Haram dringen in die Schlafsäle der Schule und bringen etwa 300 Mädchen in ihre Gewalt. Der Gouverneur des Bundesstaates Borno wird später von 129 entführten Mädchen sprechen, von denen 52 fliehen konnten. Asabe Aliyu Kwarmbula, die Direktorin der Schule, sagte hingegen, es seien weit mehr Schülerinnen entführt worden. Die Mädchen sind zwischen 12 und 18 Jahre alt - bis heute fehlt von ihnen jede Spur.

"Seit dem Tag der Entführung leide ich. Mir ist seitdem alles egal. Würde mich jetzt jemand mit einer Waffe bedrohen, es würde mir nichts ausmachen", sagte die Mutter eines der entführten Mädchen der DW. "Selbst wenn ich sterben würde, es wäre mir egal."

Boko Haram auf der Spur?

Goodluck Jonathan spricht mit entkommenen Geiseln (Foto: WOLE EMMANUEL/AFP/Getty Images)
Jonathan traf zum ersten Mal auf Mädchen, die sich selbst aus den Fängen Boko Harams befreien konntenBild: Wole Emmanuel/AFP/Getty Images

Noch im Mai behauptete Generaloberst Alex Badeh gegenüber Journalisten, die Armee wisse, wo die Schülerinnen seien. Details nannte er allerdings nicht. Anfangs vermuteten Sicherheitskräfte, Boko Haram hätte die Schülerinnen direkt nach Kamerun verschleppt. Mittlerweile gebe es Hinweise darauf, dass sie in dem Waldgebiet Sambisa in Nordost-Nigeria versteckt gehalten werden.

Doch trotz dieser Hinweise ist bisher nichts geschehen. Jibo Ibrahim, Bürgerrechtler aus der Hauptstadt Abuja, ist enttäuscht: "Die Regierung sagt, sie will keine militärische Gewalt einsetzen, um die Mädchen [bei dem Rettungsversuch] nicht zu töten. Aber wenn ein militärischer Eingriff keine Option ist, dann muss es einen Dialog geben mit diesen Leuten [Boko Haram]", fordert Ibrahim. "Oder glaubt die Regierung, die Mädchen werden ewig unter diesen Bedingungen leben können?"

#BringBackOurGirls

Die Entführung war bereits gut zwei Wochen her, da brach plötzlich ein internationaler Sturm der Entrüstung los. Ganz vorn waren die sozialen Netzwerke mit der Kampagne #BringBackOurGirls, der sich Prominente wie Amerikas First Lady Michelle Obama oder die junge pakistanische Aktivistin und Taliban-Überlebende Malala Yousafzai anschlossen. Auch in Nigerias Hauptstadt Abuja und in Kano, der größten Stadt des überwiegend muslimischen Nordens, demonstrieren fortan Tausende unter dem Motto "Release our Girls" - "Befreit unsere Mädchen".

Die Botschaften der Demonstranten werden mit jedem Tag, der verstreicht, nachdrücklicher: "Die Wahrheit ist, dass die Eltern der Mädchen und die Gemeinde von Chibok viel mehr Trost von anderer Seite erfahren haben als von unserer Regierung", schreibt Oby Ezekwesili, ehemalige Bildungsministerin Nigerias und führende Figur der Kampagne #BringBackOurGirls am Dienstag (22.07.2014) auf Twitter. "Das muss sich ändern!", fordert Ezekwesili.

Initiative Bringbackourgirls Nigeria Oby Ezekwesili (Foto: DW/Katrin Gänsler)
Ezekwesili fordert die Regierung auf, mehr für die Eltern der Mädchen zu tunBild: DW/K. Gänsler

Ihre Kritik kommt zur rechten Zeit. Denn zum ersten Mal nach der Entführung traf sich Präsident Goodluck Jonathan am Dienstag mit den Angehörigen der vermissten Mädchen. Lange war das Treffen angekündigt, immer wieder wurde es verschoben. "Ich bin sehr zufrieden mit dem Treffen", sagte der Vater eines der entführten Mädchen. "Präsident Jonathan hat uns in seinem Büro empfangen. Und er sagt uns zu, er würde alles in seiner Macht stehende tun, unsere Mädchen zurückzubringen." 177 Angehörige empfing Präsident Jonathan in Abuja hinter verschlossenen Türen - unter ihnen auch 57 Mädchen, die den Islamisten entkommen konnten.

"Das Militär ist machtlos"

Die Enttäuschung der Angehörigen ist groß. Und die Kritik am Krisenmanagement der Regierung schlägt Präsident Jonathan von Nichtregierungsorganisationen, der Opposition aber auch aus den eigenen Reihen der Partei entgegen.

Nigerias Präsident Goodluck Ebele Jonathan (Foto: EPA/JULIEN WARNAND/dpa)
Der Druck auf Jonathans Regierung wächst - auch aus der eigenen ParteiBild: picture-alliance/dpa

Trotz eines immensen Militäraufgebots und der Verhängung des Ausnahmezustandes über drei nördliche Bundesstaaten kommt es immer wieder zu Entführungen und Überfällen. Erst jüngst ist ein deutscher Ausbilder aus der nordnigerianischen Stadt Gombi entführt worden. Eine Befreiungsaktion von Sicherheitskräften blieb erfolglos. "Das Militär ist machtlos", sagte der ehemalige Militär Abubakar Dangiwa Umar der DW, "aus Mangel an ordentlichen Waffen, aber auch aus mangelnder Motivation."

Ein weiterer Aspekt, der das Vertrauen der Bevölkerung in Nigerias Armee schwinden lässt: Lokale Medien hatten kürzlich berichtet, führende Generäle würden die Terrorgruppe Boko Haram mit Informationen und Munition versorgen. Die nigerianische Armee dementierte.

Forderung nach einem Dialog mit Boko Haram

Viele Menschen im Land fordern den Dialog mit Boko Haram - auch Umar: "Weder ausländische Kräfte noch das nigerianische Militär haben eine Antwort. Meiner Meinung nach ist jetzt Dialog der einzige Weg, der noch bleibt."

Ein Lösungsansatz, auf den sich die Regierung nur schwer einlassen will. Erst recht nicht nach der jüngsten Videobotschaft von Boko Haram-Anführer Abubakar Shakau: all jene Mädchen, die sich noch in der Gewalt der Gruppe befinden, kämen nur im Austausch gegen inhaftierte Mitglieder von Boko Haram frei. Dies hat Goodluck Jonathan bisher immer ausgeschlossen.

Während sich das Unvermögen der Regierung, die Mädchen zu befreien, inzwischen auch zu einer Regierungskrise um Präsident Jonathan Goodluck ausweitet, hat die Terrorgruppe Boko Haram am Dienstag (22.07.2014) erneut eine Stadt im Nordosten überfallen. Vertreter nigerianischer Rettungskräfte sagten, 15.000 Menschen seien aus der Stadt Damboa geflohen.