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Ein Selbstversuch

26. Juli 2010

WikiLeaks hat mehr als 90.000 meist geheime Dokumente zugespielt bekommen. Sich durch die Flut der Texte und militärischen Abkürzungen zu kämpfen, ist extrem mühsam. DW-Redakteurin Sandra Petersmann hat es dennoch getan.

https://p.dw.com/p/OUoO
Durch eine Lupe gesehene Überschrift eines Artikels auf der Website von Wikileaks, welcher sich auf geheime Dokumente zum Afghanistankrieg bezieht (Foto: dpa)
Bild: picture alliance/dpa

Komplette Überlastung bei WikiLeaks: die ersten 15 Versuche meines Selbstversuchs laufen ins Leere. Dann versuche ich es über den direkten Link zum "Kabul War Diary". Ich bin drin! Und lese zuerst eine lange Einführung von WikiLeaks, wie ich mit der geballten Ladung Dokumente umzugehen habe.

Wie suche ich?

Die Daten sind grob nach Jahr und Monat vorsortiert. Aber ich kann auch regional suchen oder nach einer bestimmten Kategorie wie "freundliches Feuer", "indirektes Feuer", "Luftunterstützung" oder "Sprengstoffanschlag".

Oder ich suche ebenfalls grob vorsortiert nach Typ. Darunter fallen dann Oberbegriffe wie "Luftschläge", "freundliche Aktion", "feindliche Aktivitäten" und "Gegenangriffe nach Terrorattacken". Diesen Oberbegriff gibt es gleich zwei Mal - einmal mit und einmal ohne Bindestrich.

Man muss sich auskennen mit beschönigenden militärischen Abkürzungen. Man darf sich von den ganzen Abkürzungen nicht abschrecken lassen. Und man muss fließend Englisch sprechen, um überhaupt mit dem Material umgehen zu können.

Ein ISAF-Soldat der deutschen Bundeswehr steht am 10. Oktober 2005 auf dem Gelände des PRT (Provincial Reconstruction Team) in Kundus im Norden Afghanistans. (Foto: AP)
Freund oder Feind?Bild: AP

Ich entscheide mich schließlich für das Browsen nach Zugehörigkeit. Ich kann wählen zwischen den Unterkategorien "NATO", "Feind", "Freund", "neutral" oder "unbekannt". Ich wähle "neutral". Vor mir öffnet sich die erste Seite einer unendlich langen Liste mit 10.471 einzelnen Dokumenten. Ich klicke wahllos auf eine Notiz vom 23.03.2004. Die entsprechende Person wird namentlich voll genannt, ich verzichte hier bewusst darauf.

"Doktor N. A., ein ortsansässiger Afghane aus Z., veranstaltet Treffen, um politische Aktivitäten gegen die amtierende Regierung zu diskutieren. 10 nicht identifizierte Männer haben daran teilgenommen. Doktor A. verteilt auch Propaganda-Flugblätter. Darin werden die Afghanen aufgefordert, nicht mit der afghanischen Regierung und den Amerikanern zusammenzuarbeiten. Die Flugblätter warnen Regierungsanhänger, dass ihr Leben in ihren eigenen Händen liegt."

Wenn ich unter Zugehörigkeit unter der Kategorie "Feind" suche, finde ich 50.887 Dokumente. Wenn ich regional unter "Regionalkommando Nord" gucke, finde ich 2143 Dokumente. Deutschland führt das Regionalkommando Nord der Internationalen Afghanistan-Schutztruppe ISAF. 2143 Dokumente sind wenig Einträge gemessen an den anderen Kategorien.

Was geschah am Kundus-Fluss?

Ich entscheide mich schließlich, gezielt nach Dokumenten rund um den 3. und 4. September 2009 zu suchen, als ein Bundeswehroberst den verhängnisvollen Luftschlag von Kundus befahl.

Verletzte des tödlichen Luftangriffs vom 4. September 2009 am Kundus-Fluss (Foto: AP)
Verletzte des Luftschlags von KundusBild: AP

Ich werde schnell fündig. Unter der Überschrift "Friendly Action" kann ich mit Datum 3. September nachlesen, dass eine unbekannte Zahl Aufständischer zwei Tanklaster entführt hat. Diese seien dann beim Überqueren des Kundus-Flusses im Schlamm stecken geblieben.

"Als der Kommandeur des PRT Kundus sicher war, dass keine Zivilisten in der Nähe waren, autorisierte er einen Luftangriff. Um 21:19 Uhr warf eine F15 zwei GBU-38-Bomben ab."

Ich kann minutiös nachlesen, wie sich das Drama am Kundus-Fluss weiterentwickelt. Ich kann lesen, wie die internationalen Medien ab 9 Uhr am 4. September 2009 darüber berichteten, dass viele Zivilisten ums Leben gekommen sind, weil die Taliban sie eingeladen hatten, Benzin abzuzapfen. Am Ende dieses Eintrags findet sich dann der Hinweis, dass "56 Nicht-Aufständische" bei diesem "freundlichen Akt" ums Leben gekommen sind. Diese Zahl musste später nach oben korrigiert werden.

Natürlich ist das alles nicht neu. Viele Fakten sind längst bekannt. Aber es macht für mich dennoch einen großen Unterschied, ungefiltert auf Original-Material zurückzugreifen. Es ist zudem die schiere Masse, die einen weiteren Unterschied macht. Ich kriege nicht nur ausgewählte Ausschnitte über die Medien, ich kriege militärisches Material im Rohzustand. Kleine Notizen. Winzige Schritte. Ein Arbeitstag und ein oberflächlicher Blick reichen bei weitem nicht, um diese Dokumente gänzlich einzuschätzen. Man muss sich mit Afghanistan auskennen, um das Material irgendwie zuordnen und einordnen zu können.

Erste eigene Bewertung des Materials

Wir haben es mit einer Flut von überwiegend geheim eingestuften US-Originalquellen zu tun, darunter unmittelbare oder zeitversetzte Lageberichte von Soldaten, Berichte und Notizen von Geheimdienstmitarbeitern, militärische und geheimdienstliche Spekulationen über den Feind und seine Förderer - und bestimmt haben wir es auch mit Einträgen zu tun, um die eigene Sache zu fördern. Ein Krieg ohne Propaganda? Ganz sicher nicht!

Screenshot Wikileaks Wardiary (wikileaks)
Aus dem "Kabul War Diary" von WikiLeaksBild: google

Da alle Informanten anonym sind, müssen letzte Zweifel bleiben. Für das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" sind die Dokumente zusammengenommen dennoch "ein Fenster zum Krieg am Hindukusch“, das den "Krieg in Echtzeit" vermitteln kann. Ich stimme dem zu.

Weitere Anschläge

In einer Einschätzung zur Bedrohungslage in Nordafghanistan vom 31. Mai 2007 ist zu lesen:

"Entgegen der Erwartungen des Regionalkommandos Nord (...) halten die Attacken der Aufständischen an."

Weitere Anschläge, speziell gegen die ISAF-Truppen, seien "sicher zu erwarten".

"Die lokalen Medien berichten und agitieren erstmals gegen ISAF und die USA. Die Sicherheitslage in der Provinz Kundus wird immer brüchiger und ist nicht mehr stabil."

Die Provinz Kundus gehört zum deutschen Einsatzgebiet. Die Bundeswehr hat im Norden Afghanistans das regionale Kommando über die internationale Schutztruppe ISAF. Der Verfasser des US-Dokuments beschreibt die Lage ehrlicher, als es die Bundesregierung damals tat. Sie zeichnete auch 2007 immer noch ein überwiegend positives Bild vom Einsatz der Bundeswehr in den nördlichen Provinzen.

Im Gegenlicht: Deutscher Fallschirmjäger mit Waffe in Kundus (Foto: dpa)
Fallschirmjäger in KundusBild: picture-alliance/dpa

Inzwischen weiß jeder: Auch in Kundus herrscht Krieg. Verteidigungsminister zu Guttenberg hat diesen neuen Ton direkt nach seinem Amtsantritt angeschlagen. Die deutsche Öffentlichkeit erfährt Details aus der Kampfzone rund um Kundus fast ausschließlich dann, wenn es deutsche Opfer gibt. Aber dass der tägliche Blutzoll der Afghanen ungleich höher ist, lässt sich aus den oft umständlich und verklausuliert formulierten Dokumenten klarer als jemals zuvor herausfiltern. Ich lese immer wieder über blutige und oft auch tödliche Zwischenfälle an den Straßensperren der afghanischen Polizei. Dort sterben Polizisten nach Anschlägen. Dort sterben Zivilisten, weil sie für Angreifer gehalten werden.

Tödliche Jagd und die Rolle Pakistans

Wir erfahren außerdem aus erster Hand, dass streng geheime Kommando-Spezialkräfte wie Todesschwadronen durchs Land ziehen, um hochrangige Taliban- und Al Kaida-Führer auszuschalten - darunter die amerikanische Task Force 373, die auch im Einsatzgebiet der Bundeswehr operiert. Und wir können in den US-amerikanischen Originalquellen nachlesen, dass Pakistan ein doppeltes Spiel treibt: als Verbündeter des Westens und als Verbündeter der Taliban.

Pakistans Ex-Geheimdienstchef Hamid Gul sitz lachend und winkend in einem Auto (Foto: AP)
Ex-Geheimdienstchef Hamid GulBild: picture-alliance/ dpa

Im Zentrum steht dabei der pakistanische Geheimdienst ISI und der umstrittene Hamid Gul. In einer US-Geheimdienstnotiz vom 17. Dezember 2006 heißt es:

"Um den 17. Dezember 2006 gab es im pakistanischen Nowshera ein Treffen hochrangiger Taliban, an dem auch General Hamid Gul teilgenommen hat, der ehemalige Chef des pakistanischen Geheimdienstes ISI. Während des Treffens erklärte Gul, dass er drei nicht identifizierte Personen Richtung Kabul geschickt hat, um während des Eid-Festes Anschläge zu verüben."

Dieses brisante Dokument wird untermauert durch viele weitere geheimdienstliche Warnungen. In einer Notiz vom 30. Oktober 2007 heißt es, dass Al Kaida und ISI eine "gemeinsame Angriffsgruppe" namens "General" gebildet hätten:

"Die Gruppe umfasst sechs Selbstmordattentäter, zwei davon Chinesen, zwei Usbeken, die anderen Araber. Die Selbstmordattentäter sind in Khost eingedrungen."

Außerdem finden sich Dokumente, die darauf hinweisen, dass Präsident Hamid Karsai getötet werden soll und dass der pakistanische Geheimdienst seine Verbündeten in Afghanistan anweist, gezielt Inder zu töten. Tatsächlich ist das riesige Nachbarland Indien für Pakistan der Feind Nummer Eins. Das gestürzte Taliban-Regime in Afghanistan galt als wichtiger strategischer Partner im Kampf gegen Indien.

Mein Fazit

Pakistan und sein ehemaliger Geheimdienstchef Hamid Gul wehren sich heftig gegen die neuen Vorwürfe. Das Weiße Haus in Washington sieht durch die Veröffentlichung des Geheim-Materials bei WikiLeaks sogar amerikanische Leben in Gefahr.

Für den Leser bleibt die bittere und mühsame Innenansicht eines hochkomplizierten und vielschichtigen Krieges, dessen ganze Dimension nur die wenigsten wahrhaben wollen. Es erscheint schwer vostellbar, dass die von US-Präsident Barack Obama verfügte temporäre Truppenaufstockung in Afghanistan für die große Wende sorgen kann. Und dass die afghanischen Soldaten und Polizisten bis 2014 selber in der Lage sein werden, für Afghanistans Sicherheit zu sorgen. Das hat die internationale Kabul-Konferenz erst in der vergangenen Woche beschlossen.

Trotzdem ist beim Umgang mit diesen Dokumenten auch Vorsicht geboten. Wir wissen letztendlich nicht, zu welchem Zweck sie von wem verfasst und weitergeleitet worden sind.

Autorin: Sandra Petersmann

Redaktion: Kay-Alexander Scholz