1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Netflix ehrt Tejano-Superstar Selena

Sertan Sanderson
10. Dezember 2020

In den 1990er-Jahren stürmten Selenas Tejano-Hits die US-Charts. Der texanisch-mexikanische Musikstil wurde auch von Siedlern aus Deutschland beeinflusst.

https://p.dw.com/p/3mW5q
Junge Frau mit Trägertop und roten, langen Fingernägel singt in ein Mikrofon.
Christian Serratos überzeugt die Kritiker als "Selena", die gleichnamige Serie jedoch nicht so sehrBild: Netflix/AP Photo/picture alliance

Für ihre Fans brach am 31. März 1995 die Welt zusammen, als die Tejano-Sängerin Selena von der Managerin ihres Fanclubs erschossen wurde. Die Grammy-Gewinnerin war gerade dabei, zu einem Weltstar zu avancieren.

Seit ihrer jüngsten Kindheit hatte sie auf der Bühne gestanden und kannte das Musikgeschäft in all seinen Facetten, von Intrigen bis zu Höhenflügen.

Der Aufstieg der Tejano-Musikerin mutet wie der Plot einer Telenovela an und bewegt die Menschen in Texas bis heute. Und auch Netflix ließ sich inspirieren: Bereits am Veröffentlichungstag (4. Dezember) startete die neunteilige, erste Staffel der Serie "Selena", gespielt von Christian Serratos, bei dem Streaming-Anbieter durch.

Unsterbliche Sängerin

Die Serie kletterte binnen weniger Tage auf Platz 1 der US-amerikanischen Netflix-Charts - woraufhin die Radiosender wieder jahrzehntealte Selena-Klassiker wie "Como la Flor" und "Dreaming of You" spielten. 

Frau mit langen schwarzen Haaren winkt aus einem Fenster. In der Fensterscheibe sind rufende und winkende Fans mit Plakaten zu sehen.
25 Jahre nach ihrer Ermorderung ist Selena als Star unsterblich - und Fans dankbar für die neue Streaming-SerieBild: Netflix/AP Photo/picture alliance

Es gibt allerdings einen Ort in den USA, der auch schon in den vergangenen 25 Jahren rund um die Uhr an Selena gedacht hat: Die Heimatstadt der Sängerin, Corpus Christi, längst eine Pilgerstätte für Fans aus aller Welt. Eine Statue an der Uferpromenade der Stadt ist seit 1997 ein Touristenmagnet der Stadt, das Grab der Sängerin wird täglich mit Blumen überhäuft. Und die Tür zum Zimmer 158 des damaligen Days Inn Motel, wo Selena ermordet wurde, dient ebenfalls als eine Art Schrein.

Seit vielen Jahren betreibt Selenas Familie zudem ein Museum, in dem ihre Musikpreise und Bühnenkostüme zu sehen sind. Tausende Fans besuchen auch das jährliche Open-Air-Festival, das in Gedenken an die Sänger organisiert wird.

"Für mich war Selena einfach eine Ikone. Jedes Mal, wenn ich auch nur ihren Namen höre, freue ich mich total", meint Selena-Superfan Raymond Abel, der in Corpus Christi aufgewachsen ist.

Der 33-jährige Schauspieler lebt jetzt in Los Angeles, sagt aber, dass er fast jeden Tag an die begabte Tejano-Entertainerin denkt. "Wir haben Ihre Entwicklung damals alle miterlebt, als Tejano-Musik noch viel traditioneller war. Selena durchbrach sämtliche Hürden, die ihr in dieser von Männern geprägten Musikwelt im Wege standen und machte alles so, wie sie es für richtig hielt. Sie war einfach eine Visionärin."

Deutsche Geschichte in Texas

Als den Soundtrack von Südtexas könnte man Selenas Musik auch bezeichnen; dieser Frau kann man dort einfach nicht entkommen. Doch die kreativen Wurzeln der Tejano-Musik stammen hauptsächlich aus dem europäischen Raum: Mitte des 19. Jahrhunderts kamen deutsche, polnische und tschechische Einwanderer nach Texas, um die Felder nördlich des Flusses Rio Grande zu beackern. Und im Gepäck brachten sie ihre Akkordeons mit, um mit Walzer und Polka-Rhythmen die Heimatmelodien fortleben zu lassen.

Skyline Corpus Christi am Hafenbecken mit Hochhäusern und Segelschifen
Corpus Christi in Texas: Einst Fischerdorf, heute moderne HafenstadtBild: SeanPavonePhoto/imago images

Vor allem die deutschen Siedler wurden in der Region schnell sesshaft, da sie zu den wenigen Neuankömmlingen gehörten, die Land besitzen durften - allein dieser Anreiz reichte oftmals, um alles stehen und liegen zu lassen und in den Wilden Westen aufzubrechen. Diese Siedler nun schafften schließlich auch Arbeitsplätze für die mexikanische Bevölkerung in der Gegend - auch wenn die Arbeitsverhältnisse meistens von Fremdenfeindlichkeit geprägt waren.

Die mexikanischen Landarbeiter lebten ihre eigene Kultur mit der mexikanischen Volksmusik Marachi. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie mit ihren Cowboystiefeln zu den eher volkstümlichen Klängen aus Europa tanzten und ihre mexikanische Würze wiederum die eher zurückhaltenden deutschen, polnischen und tschechischen Siedler beleben würde. "Deutsche und Tschechen führten das Akkordeon ein, was bis heute noch bei der Tejano-Musik Bestand hält. Sobald man beim Tejano das Akkordeon hört, weiß man, dass es gleich rund gehen wird", erklärt Raymond Abel.

Made in America

Diese gegenseitige Befruchtung der Musik habe seitdem die Tejano-Kultur zum Markenzeichen von Südtexas gemacht. "Sei es bei der Musik, beim Essen oder beim Bier: Die Menschen haben einfach die Einflüsse der anderen angenommen. Und dabei ist es bestimmt nicht so, dass der Tejano angepasst und amerikanisiert wurde. Es sind die Anglo-Amerikaner, die Tejano wurden. Alle meine Anglo-Freunde sind ebenfalls Tejanos, weil sie in dieser Kultur aufgewachsen sind. Und das sind wir vor allem Selena schuldig", sagte Abel gegenüber der DW.

Musiker Ruben Cubillos mit blauem Strohut und Sakko und Sonnenbrille
"Tejano ist eine typisch amerikanische Kunstform" - Ruben Cubillos, Musiker und WerbefachmannBild: privat/Ruben Cubillos

Der 65-jährige Musiker und ehemaliger Werbefachmann Ruben Cubillos, der früher eng mit Selena zusammengearbeitet hat, spitzt die Idee weiter zu und behauptet, dass Tejano "eine typisch amerikanische Kunstform" sei - gerade weil die Musik die Fähigkeit besäße, so viele verschiedene Einflüsse zusammenzubringen.

Ohne den Tod Selenas hätte sich allerdings in den vergangenen Jahrzehnten wahrscheinlich nicht besonders viel in der Tejano-Szene getan. Die Künstlerin, die zum Zeitpunkt ihres Tods knapp 24 war, hauchte Tejano in den 1990er-Jahren neues Leben ein; andere große Namen des Tejano-Genres wie Laura Canales oder Emilio Navaira hatten es zuvor nicht geschafft, die Musik auch für jüngere Generationen attraktiv zu machen.

Ruben Cubillos beklagt zugleicht jedoch auch, dass sich neue Tejano-Acts einfach nicht genug Mühe geben würden: "Tejano hat sich so sehr verändert. Der Hunger, der Wunsch, der Antrieb der 1980er-Jahre ist einfach nicht mehr da. Die heutige Social-Media-Mentalität hat das alles zerstört", sagte Cubillos gegenüber der DW. "Wer nicht mit Herz und Seele an der Sache hängt, der macht doch eigentlich nichts anderes als nur Karaoke singen."

Raymond Abel ist ähnlicher Meinung: "Selena gibt es nur einmal und wird es auch nie wieder geben. Sie war nicht einmal am Höhepunkt ihrer Karriere, als sie aus dem Leben gerissen wurde. Und genau diese Tragödie ihres Todes macht sie für viele Leute immer noch attraktiv. Wir wissen einfach nicht, was genau aus ihr geworden wäre, wenn sie noch am Leben wäre."

"Wir schulden Selena aber auf jeden Fall ein riesiges Dankeschön. Sie hat den Boom von Latino Performern in den 1990er-Jahren voran getrieben. Ohne Selena hätte es keine Jennifer Lopez gegeben, keinen Ricky Martin und keine Shakira."

Latino-Kultur für alle

Der Reiz an Selenas Musik ist vielleicht auch die Tatsache, dass sie über alles und jeden singen konnte. Bei ihren Liedern ging es genau so sehr um Liebe und Herzschmerz ("Como la Flor") wie um einfache Dinge im Leben wie zerbeulte alte Autos ("La Carcacha"):

"Selena war eine von uns. Sie kam aus einfachen Verhältnissen. Ihr wurde nichts geschenkt. Aber ihr gelang einfach alles, was sie sich in den Kopf setzte. Und dafür lieben die Menschen sie immer noch", erklärt Cubillos. Und Recht hat er: Man muss kein Wort Spanisch können, um bei Liedern wie "Bidi Bidi Bom Bom" nicht nur mitzuschunkeln sondern auch lauthals mitzusingen. Jeder ist willkommen.

Laut Cubillos war es der Marke Selena von vorn herein wichtig, in die Außenwelt zu kommunizieren, dass Selena ein nahbarer, authentischer Mensch ist, "denn das war nun mal ihre größte Stärke. Sie konnte mit allen klar kommen."

"Ich habe ihr dabei geholfen, diese Marke aufzubauen. Als künstlerischer Leiter musste ich sicher stellen, dass ihre Alben besser aussahen als das meiste, was damals im Umlauf war. Es lag uns sehr am Herzen, vor allem ihre Vielseitigkeit zu kommunizieren."

Eine schrecklich nette Familie

Diese Vielfaltigkeit im Markenkern wurde aber auch von Selenas Familie unterstützt, was auch vom ersten Moment an in der Netflix-Serie zu sehen ist: Selenas Bruder A.B. schrieb die meisten ihrer Songs und begleitete die Band am Bass, ihre Schwester Suzette spielte dabei das Schlagzeug und Mutter Marcella stand immer mit weisen Worten zur Seite. Es war aber vor allem Vater Abraham Quintanilla, der die Familie bis an die Grenzen des Möglichen trieb.

Schauspieler Ricardo Antonio Chavira schwankt in seiner Darstellung des Familienoberhaupts zwischen absoluter Disziplin und grenzenloser Liebe. Ruben Cubillos betont, dass man diese "schauspielerische Glanzleistung" im Gesamtzusammenhang der Familie betrachten muss: "Wir dürfen nicht vergessen, dass er vor allem ein Vater ist. Und als Eltern haben wir eine gewisse Verantwortung gegenüber unseren Kindern. Wir würden doch Berge für sie versetzen. Und bis zu seinem letzten Atemzug wird Selenas Vater nur das Beste für seine Tochter tun."

Ohne Abraham Quintanilla hätte Selena es nicht geschafft, meint Cubillos. "Selena brauchte einen harten Manager. Und er ist nun einmal die Art von Mann, der ohne Rücksicht Menschen auf die Füße treten kann oder sich auch mit jemanden prügelt, wenn es sein muss." Selena sei zwar nicht immer nicht immer derselben Meinung gewesen, aber "das ist doch menschlich."

Tatsächlich ist es genau diese Dynamik zwischen Selena und ihrem Vater, die den Serien-Zuschauern die besondere, südtexanische Mischung un Kultur vermittelt: Selenas schwingende Hüften konkurrieren mit der fast schon preußischen Autorität ihres Vaters, heiße Tänze kontrastieren mit katholischen Riten der Frömmigkeit. Lieder von Liebe und Sehnsucht mischen sich mit kindlichem Enthusiasmus und Reinheit - und die Fülle eines jungen Lebens voller Träume und Hoffnung trifft auf die eigene Sterblichkeit.