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Startschuss zur Fußball-WM im Exoskelett

Robin Hartmann11. Juni 2014

Keine Zukunftsvision: Milliarden von Menschen verfolgen die Fußball-WM in Brasilien und haben erlebt, wie ein querschnittgelähmter Jugendlicher den Ball zum Anstoß des Eröffnungsspiels schießt.

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Bild: cotesys.org

Es ist der 12. Juni 2014, das Estadio de Sao Paulo in Brasilien kocht, 65.000 Zuschauer jubeln, in wenigen Augenblicken wird hier die Fußball-Weltmeisterschaft angepfiffen werden. Da betritt ein Wesen das Stadion, halb Mensch, halb Maschine, statt normaler Beine hat es mechanische Extremitäten. Es läuft zum Mittelkreis, langsam, ruckartig, von Milliarden von Augenpaaren auf den großen Leinwänden und Bildschirmen verfolgt, und tritt gegen den Ball, den ersten, der bei dieser WM gespielt werden wird. Die Festspiele sind eröffnet.

Was klingt wie ein Szenario aus einem Science-Fiction-Film, ist bei besagtem Eröffnungsspiel in Brasilien Realität geworden. Das Wesen, von dem die Rede ist, ist tatsächlich Mensch und Maschine: Ein von seinen eigenen Gedanken gesteuertes Exoskelett hat einen von der Hüfte abwärts gelähmten Jugendlichen dazu befähigt, den Kick-Off für die Fußball-Weltmeisterschaft 2014 zu geben.

Das ist kein Marketing-Gag der FIFA, sondern eine wissenschaftliche Sensation: Erstmals ist es einem internationalen Team von Neurowissenschaftlern und Ingenieuren gelungen, eine Roboter-Prothese allein durch die Kraft der Gedanken zu steuern.

Bereits seit 2008 arbeiten sie an dem sogenannten "Walk Again Project" - mit dem Ziel, eines Tages Millionen von gelähmten Menschen wieder normale Bewegungen zu ermöglichen. Das hofft zumindest Gordon Cheng von der Technischen Universität München, der als einer der federführenden Wissenschaftler an dem Großprojekt beteiligt ist: "Dieses Projekt könnte der Gesellschaft einen großen Nutzen erweisen, besonders natürlich all den Unglücklichen, die sich nicht mehr von alleine bewegen können. Es ist ein wundervolles Gefühl zu wissen, dass all unsere harte Arbeit den Menschen helfen wird."

Menschliches Gehirn, mechanische Beine

Gordon Cheng, Robotikforscher an der TU München (Foto: DW/Robin Hartmann)
Robotikforscher Gordon Cheng mit einem der PrototypenBild: DW/R. Hartmann

Den großen Durchbruch für das "Walk Again Project" erzielten Cheng und sein Kollege Miguel Nicolelis, der weltweit führende Neurobiologe auf dem Gebiet der Mensch-Maschinen-Vernetzung, im Jahr 2008. Damals gelang es ihnen erstmals, Roboterbeine per Gedankenwellen zu steuern.

Das Besondere: Das Gehirn - das eines Primaten - befand sich in der Duke Universität in den USA, die Beine aber in einem Forschungslabor in Japan. "Jetzt wussten wir, dass ein biologisches Gehirn tatsächlich mechanische Beine steuern konnte", so Cheng. "Das war der Durchbruch für das Projekt."

Cheng und seine Kollegen auf der ganzen Welt begannen Prototypen zu bauen. Dazu entwickelten der Professor und sein Forschungsstab an der TU München Sensoren, die der menschlichen Haut ähneln: Dadurch kann der Gelähmte Bewegungen mit dem gedankengesteuerten Exoskelett nicht nur ausführen, sondern sogar spüren. Kabellose Elektroden, die am Kopf eines Probanden angebracht sind, nehmen dessen Gehirnwellen auf, die dann wiederum dem Exoskelett signalisieren, sich zu bewegen. "Vibrationen geben der Person sogar das Gefühl, den Boden zu berühren, den Fuß zu bewegen und den Ball zu treten", sagt Cheng im Hinblick auf den Coup bei der Fußball-WM.

Den Vorwurf, mit seiner Erfindung Gott zu spielen, möchte er entkräften: "Unser Ziel ist es einzig, heutige und zukünftige wissenschaftliche Erkenntnisse zu nutzen, um etwas Gutes zu tun. Sobald wir sämtliche Eventualitäten ausgeräumt haben, können wir damit endlich beginnen."

Ein internationales Projekt

Am "Walk Again Project" sind neben Cheng und der TU München auch das Forschungszentrum für Biotechnik der Duke Universität in den USA beteiligt, das Schweizer Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, das Internationale Zentrum für Neurobiologie in Natal (Brasilien) und zwei Universitäten in Kalifornien und Kentucky. Dabei geht es den insgesamt fast 200 Wissenschaftlern nicht um den Profit, wenn sie ihr Projekt in wenigen Monaten der Weltöffentlichkeit vorstellen werden: "Wir wollen zeigen, das Wissenschaft auf einem absoluten Top-Niveau das Leben der Menschen verbessern kann."

Besonders zugute kommen soll die weltweit einzigartige Erfindung Menschen, die sich aufgrund von Gehirnschäden oder körperlichen Krankheiten nicht mehr von selbst bewegen können. Als das "Walk Again Project" im Juni letzten Jahres vorgestellt wurde, sagte Nicolelis: "Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass das Gehirn die Maschine dank der Vernetzung so behandelt, als wäre sie ein natürlicher Körperteil - so wie Tennisspieler den Schläger als Verlängerung ihres Arms betrachten mögen."

Ein Lebenswerk der Wissenschaft

Mit einer auserwählten Gruppe von zehn Jugendlichen, alle von der Hüfte ab gelähmt, hat sich das Forscherteam lange auf den entscheidenden Moment bei der Eröffnung der WM vorbereitet. In Sao Paulo wurde eigens ein Labor für eine Reihe von Tests eingerichtet. Dort haben die jungen Menschen gelernt, mit einer virtuellen Umgebung und einem robotischen Trägerhemd zu interagieren. Das erlaubt ihnen zu 'gehen', ohne sich tatsächlich zu bewegen.

Das Ganze müsse man sich wie eine Art Flugsimulator vorstellen, erklärt Nicolelis: Ein Avatar ahmt alle Bewegungen nach, die die Jugendlichen machen, vermittelt ihnen so ein Gefühl für die Mensch-Maschine-Interaktion, das sie später befähigen soll, die gesamte Motorik kraft ihrer Gedanken zu steuern. Und genau so wird es ablaufen. Der auserwählte junge Mann, der eigentlich nicht laufen kann, steht in Kürze auf dem Fußballfeld und eröffnet die WM 2014 in Brasilien - und das ist dann sicherlich die größte Sensation der Spiele.