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GesellschaftNahost

Der Aufschrei der Ägypterinnen

Siham Ouchtou | Kersten Knipp
8. Juli 2020

Sie wollen nicht mehr schweigen. Studentinnen der Amerikanischen Universität in Kairo klagen auf Instagram einen Kommilitonen wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung an. Ägypten erlebt einen neuen #meToo-Moment.

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Ägypten Plakat in der Kairo Universität
"Gemeinsam gegen sexuelle Belästigung": Plakat an einer Hochschule in KairoBild: DW/R. Mokbel

Der Student schien sich seiner Sache sicher. Unbehelligt hatte er offenbar mehr als zwei Jahre lang Kommilitoninnen an der Amerikanischen Universität in Kairo sexuell belästigt oder vergewaltigt. Die Frauen, so glaubte er, würden es nicht wagen, ihn anzuzeigen oder anderweitig gegen ihn vorzugehen.

Er habe versucht, sie mit dem angeblich großen Einfluss seiner Familie einzuschüchtern, so Nihad Abu al-Qumsan, Anwältin einer der belästigten Frauen, im Arabischen Programm der DW. Eine Fehlkalkulation: Am Samstag vergangener Woche wurde der 21-jährige Ahmed Bassam Z. von der Polizei verhaftet. Nun muss er sich einer Flut von gravierenden Anschuldigungen stellen.

Ins Rollen gekommen war der Fall laut ägyptischer Medien durch eine arabischsprachige Instagram-Seite mit dem - ins Deutsche übersetzten - Namen "Polizei und sexualisierte Gewalt". 93 Frauen und Mädchen berichteten dort über sexuelle Übergriffe.

Die Amerikanische Universität in Kairo gilt als renommierte Hochschule, an die reiche und einflussreiche ägyptische Familien gerne ihren Nachwuchs schicken. Die detailreichen und schockierenden Aussagen aus diesem elitären Umfeld sorgten in Ägypten für großes Aufsehen. 

Missbrauch und Erpressung

Am Dienstag waren laut Presseberichten beim Nationalen Frauenrat Ägyptens bereits über 400 Beschwerden gegen den Studenten eingegangen. "Man ermutige weitere Betroffene, eine Aussage gegen den Mann zu machen, erklärte das Gremium. "Nur so erhält er die Strafe, die er dem Gesetz nach verdient."

Ahmad Z. wird unter anderem beschuldigt, auch ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt zu haben. Andere Frauen berichteten, der Mann habe ihnen gedroht: Sollten sie ihn anzeigen, würde er gefälschte Bilder von ihnen im Netz veröffentlichen, die sie in anzüglichen Situationen zeigten.

Eine der Betroffenen entschloss sich, den jungen Mann bei der Polizei anzuzeigen: Vor vier Jahren habe er sie sexuell bedroht, lautete der Vorwurf. Diese Anzeige führte zur Verhaftung des Beschuldigten.

Die bekannte Fernsehmoderatorin Radwa el-Sherbiny erklärte auf Twitter ihre Solidarität mit den Opfern. Über derartige Fälle werde in Ägypten immer noch zu wenig gesprochen. Auch die ägyptische Schauspielerin Rania Youssef meldete sich zu Wort. Sie forderte die Verabschiedung eines Gesetzes, das Belästigungen aller Art - auch in sozialen Medien - verhindere.

Sie selbst sei einmal wegen eines getragenen Kleides, das nach dem Geschmack einiger Zuschauer wohl zu freizügig war, sehr grob in sozialen Netzwerken beleidigt worden. Unter sexueller Belästigung unterschiedlicher Art und Intensität leiden ägyptische Frauen seit langem.

Kundgebung gegen sexuelle Belästigung in Kairo
"Belästigung hat nichts mit Kleidung zu tun": Demonstration von Frauen in Kairo (Archivbild von 2014)Bild: DW/K. El Kaoutit

Perfider Mechanismus

Die Anschuldigungen der jungen Frauen gegen Ahmed Z. sind schockierend. Eine junge Frau berichtet auf der Instagram-Plattform, sie sei anal vergewaltigt worden und habe anschließend unter anderem an einer Beckenfraktur gelitten. Eine andere Frau erklärt, der Beschuldigte habe ihr das Hemd vom Leib gerissen. "Dann hat er es mir in den Mund gestopft, um mich am Schreien zu hindern."

Die Frauenrechts-Aktivistin Rola Khalil sieht solche Vorfälle in einem größeren Kontext: "Wir leben in einer Gesellschaft, die immer die Frau attackiert", so Khalil in einem Interview für das arabische DW-Format "Jaafartalk". Man frage sich als Ägypterin immer: "Was trage ich? Warum gehe ich spät aus? Warum habe ich mit einer bestimmten Person gesprochen?" So setze ein perfider Mechanismus ein: "Man beschuldigt sich ständig selbst - anstatt den zu beschuldigen, der einen sexuell belästigt."

"Revolutionärer Akt"

Die in Berlin an der Freien Universität lehrende deutsch-ägyptische Politologin und Frauenrechts-Expertin Hoda Salah sieht nun immerhin einen Wendepunkt erreicht: Der Vorfall mache klar, dass sexuelle Belästigung in allen gesellschaftlichen Schichten stattfinde. "Bislang glaubte man oft, dies beschränke sich auf die wirtschaftlich unteren Schichten und käme in gebildeten Kreisen nicht vor. Das war eine irrige Vorstellung", so Salah gegenüber der DW.

Die Entscheidung der Frauen, sich zu wehren, sei ein "revolutionärer Akt", sagt Salah - und zeige:  Wenn die Gesetze nicht ausreichten, könnten die sozialen Medien Missstände korrigieren. Frauenrechte seien in der Verfassung Ägyptens theoretisch zwar gut geschützt, aber es gebe eine große Kluft zwischen gesetzlichen Vorgaben und der alltäglichen Realität.

Ägypten Graffiti-Projekt gegen sexuelle Belästigung
Graffiti gegen sexuelle Belästigung von Frauen in KairoBild: DW/W. AlBadry

Widersprüchliche Signale

"Ägyptens Behörden senden widersprüchliche Signale aus", so Salah. "Einerseits erarbeitet der Staat gute Gesetze und signalisiert, dass er die Kultur der Belästigung nicht weiter hinnehmen will. Andererseits ist er mit Blick auf die Kontrolle der Frauen mit militanten Islamisten in eine Art Wettbewerb getreten."

In vielen Fällen zeige sich, dass die Vormundschaft über die Frau und ihren Körper weiterhin bestehe. Damit rückt Salah die Aufmerksamkeit auf einen weiteren Punkt: In vielen Ländern der Region wird implizit oder explizit auch die Religion zur Rechtfertigung der Unterdrückung von Frauen herangezogen.

Hoda Salah hofft, dass sich dies nun ändert. "In der Vergangenheit waren Aussagen wie 'Allein die Frau hat das Recht, über ihren Körper zu verfügen' in Ägypten völlig unbekannt." Das Vorgehen der belästigten und vergewaltigten Frauen zeige jedoch, dass die sozialen Medien hier eine grundlegende Änderung bewirkten. Auch sei die neue Generation von Frauenrechtlerinnen in Ägypten erheblich mutiger als die ihrer Vorgängerinnen.

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika