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"Ich dachte, ich darf nichts sagen"

Julia Dorny
2. Dezember 2021

Sexuelle Gewalt im Sport hat auch Marie Dinkel erlebt. Als Jugendliche wird sie monatelang von ihrem Judotrainer missbraucht. Bis sie sich wehrt und mit ihren Eltern spricht. Heute macht sie anderen Betroffenen Mut.

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Judo-Kämpferin Marie Dinkel steht im blauen Judoanzug in der Trainingshalle und lächelt in die Kamera
Judokämpferin Marie Dinkel möchte Betroffenen von sexueller Gewalt helfenBild: Julia Dorny/DW

Sexuelle Gewalt im Sport - Judoka Marie Dinkel: "Ich dachte, ich darf nichts sagen"

"Das Einzige, was ich gedacht habe, war, warum hilft mir denn niemand?" - so erinnert sich Marie Dinkel an die schlimmste Zeit in ihrem Leben. Mit 13 Jahren rücken sie und zwei weitere Mädchen ins Leistungsteam ihres Vereins TV Gladenbach auf, einem Sportverein mit Judo-Abteilung in einem Dorf etwa 75 Kilometer nördlich von Frankfurt am Main. Neben dem regulären Training erhalten die Mädchen nun gezieltes Einzeltraining in "einem kleinen, separaten Raum einer Schulturnhalle", erinnert sich Dinkel. "Dadurch, dass wir drei Mädchen waren, musste eine immer mit 'ihm' trainieren."

"Er" war eigentlich Dinkels Lieblingstrainer, bis es zu mehreren Übergriffen kam. "Ich habe ihm vertraut, aber ich dachte damals, dass ich nichts sagen darf, weil ich das ja verdient habe", erinnert sich Dinkel. "Weil ich im Training nicht gut war, auf dem letzten Wettkampf nicht gut abgeschnitten habe und dass es irgendeinen Grund haben muss, dass ich so behandelt werde."

Eng geschnürte Judohosen

Sie weiß noch genau, wie ihr Trainer bei einer Übung ihr Becken mit seiner Hüfte fixierte. "Er hat dann von hinten in meine Hose gegriffen. Ich konnte mich daraus nicht befreien, weil ich in Schockstarre war", sagt Dinkel. "Ich habe gewartet, dass es vorübergeht." Ein weiterer Übergriff sei in einem größeren Trainingsraum passiert. "An dem Tag waren zehn bis fünfzehn Leute auf der Matte. Ich habe auf einem der Mattenwagen gesessen, als er kam und sich vor mich stellte." Vor versammelter Mannschaft habe er ihr wieder von hinten in die Hose gegriffen. Die heute 25-Jährige ist der Meinung, dass das jemand hätte sehen müssen - geholfen hat ihr aber niemand.

Judo-Kämpferin Marie Dinkel im Alter von 13 Jahren im Judoanzug mit Urkunde und Medaille um den Hals
Als Marie Dinkel 13 Jahre alt ist, beginnen die Übergriffe ihres TrainersBild: Privat

Auch die drei Mädchen haben untereinander über den Missbrauch nie gesprochen. Irgendwann aber fingen sie damit an, sich vor dem Training stillschweigend gegenseitig die Judohosen "so fest wie nur möglich zuzuschnüren".

Es dauert etwa ein halbes Jahr bis Dinkel das Schweigen bricht und es ihrer Mutter auf der Heimfahrt vom Training noch im Auto erzählt. Ihre Eltern informieren den Verein. Der Trainer, der auch Lehrer ist, erhält Hausverbot. Erst als er weg ist, kehrt Marie Dinkel wieder ins Training zurück, doch es bleibt ein Gefühl von Schuld und Scham, unter dem viele von sexueller Gewalt Betroffene leiden.

Viele Widerstände, riesiges Ausmaß

Die Täter nutzen oft eine Art manipulativen Prozess der Vertrauensgewinnung, das sogenannte "Grooming", sowie spezielle Annäherungsstrategien, die verhindern sollen, dass die Tat mitgeteilt wird. Außerdem ist problematisch, dass sich Kinder oftmals mehreren Erwachsenen offenbaren müssen, bevor ihnen überhaupt Glauben geschenkt wird. Die Erfahrung fehlenden Vertrauens seitens der Erwachsenen entmutigt die Kinder, sich erneut jemanden anzuvertrauen.

Detailaufnahme von den Händen eines Mädchens, das beim Turntraining in der Turnhalle sitzt
Oft ist bei Opfern sexueller Gewalt die Scham so groß, dass sie sich nicht trauen, etwas zu sagenBild: Lehtikuva Marja Airio/dpa/picture alliance

Welche Dimension das Problem der sexuellen Gewalt im Sport hat, haben Forscher der Deutschen Sporthochschule Köln und der Uniklinik Ulm in der Studie "Safe Sport" zur Sicherheit von Kindern und Jugendlichen im organisierten Sport in Deutschland dargelegt. Sie beziffern die Zahl der Betroffenen auf rund 200.000. Genaue Zahlen gibt es nicht, auch weil es keine internationalen Standards zur Erhebung von Misshandlungsfällen gibt. "Vereinzelte nationale Erhebungen sind selten vergleichbar, denn meist liegt diesen Studien eine unterschiedliche Definition von Kindesmisshandlung zugrunde", erklärt Projektkoordinator Andreas Jud von der Ulmer Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. "Zudem tauschen die Institutionen eines Landes, die bei Misshandlungsfällen reagieren, ihre Daten selten untereinander aus."

Laut Informationen des von der deutschen Bundesregierung "Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs" (UBSKM) verzeichnet die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für das Jahr 2020 in Deutschland 14.594 Straftaten des sexuellen Kindesmissbrauchs, die bekannt geworden sind. Dunkelfeldforschungen aus den vergangenen Jahren haben ergeben, dass etwa jeder siebte bis achte Erwachsene in Deutschland in Kindheit oder Jugend sexuelle Gewalt erlitten hat. Unter den Frauen ist sogar jede fünfte bis sechste betroffen. Zudem haben Frauen eher schweren sexuellen Missbrauch erfahren.

Die Opfer sexueller Gewalt leiden unter den Folgen oft ein Leben lang. Häufig kommt es zu schwerwiegenden psychischen Erkrankungen wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) - auch Marie Dinkel ist davon betroffen.

Brechreiz und Panikattacken

Mit 18 Jahren beginnt ihr Körper auf die Traumata ihrer Jugend zu reagieren: Dinkel erleidet immer öfter Panikattacken, teilweise mehrmals am Tag. "Ich habe auf dem Boden gesessen und mich nach vorn und hinten gewippt, weil das irgendwie Sicherheit gegeben hat", erzählt sie. "Manchmal habe ich geschrien. Ich war für meine Außenwelt nicht mehr erreichbar. Geendet hat es immer vor Erschöpfung, weil ich nicht mehr konnte und mich dann übergeben habe."

Judo-Kämpferin Marie Dinkel
Nach den Übergriffen war es Marie Dinkel unwohl dabei, mit Männern zu trainieren - heute hat sie das überwundenBild: Julia Dorny/DW

Mittlerweile habe sie nicht mehr mit Panikattacken zu kämpfen. Natürlich sei das Thema immer noch schwer für sie, sagt Dinkel, "aber ich habe inzwischen meine Skills und Methoden, wo ich mich sicher fühle. Die kann ich gut einsetzen."

Lange hat sie sich bedeckt gehalten, doch ihr Mann, mit dem Marie Dinkel heute in der Schweiz lebt, bestärkt sie darin, ihr Schicksal öffentlich zu machen. So stellt sie sich dem Thema im Oktober 2020 auch in den Medien. Als der Deutsche Judo Bund (DJB) ein öffentliches Hearing zur Aufarbeitung sexueller Gewalt gegen Kinder im Rahmen des Schwerpunktes Sport initiiert, ist Marie Dinkel per Videochat zugeschaltet und erzählt ihre Geschichte. Ein großes Medienecho ist die Folge - eine teilweise mediale Aufarbeitung beginnt.

Fehlende Offenheit

"Marie ist in dem Sinne mutig, dass sie schon als Kind nach diesem Vorfall weiter dem Judosport die Treue gehalten hat. Sie wollte weitermachen, trotz allem, was ihr passiert ist", sagt er über seine Frau. "Und auch heute noch ist sie in ständiger Aufarbeitung. Das hört nicht von heute auf morgen auf, das ist ein schwieriger Prozess und sie stellt sich dem tagtäglich - im Judo und auch in anderen Situationen."

Marie Dinkel ist aktive Kämpferin der 2. Judo-Bundesliga und Trainerin. Hauptberuflich arbeitet sie als Physiotherapeutin in der Schweiz. Sie will Ansprechpartnerin für Sportler und Frauen sein, die dasselbe erleiden müssen, wie sie selbst. Denn noch immer fehle die Offenheit für das Thema sexuelle Gewalt im Sport und bei Betroffenen mache sich oft das Gefühl breit, nicht ernst genommen zu werden. Zudem möchte Dinkel zu einem Wandel in den Sportvereinen beitragen. Beim TV Gladenbach gibt es inzwischen zwei Kindesschutzbeauftragte, einer von ihnen ist Ben, Maries Bruder.