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Literatur

Shortlist Deutscher Buchpreis 2021

Christine Lehnen
17. Oktober 2021

An diesem Montag fällt die Entscheidung, welcher dieser sechs Romane den begehrten Literaturpreis erhält. Zur Wahl stehen Bücher von drei Autorinnen und drei Autoren.

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Shortlist Deutscher Buchpreis 2021
In die Endauswahl gekommen sind Norbert Gstrein ("Der zweite Jakob"), Monika Helfer ("Vati"), Christian Kracht ("Eurotrash"), Thomas Kunst ("Zandschower Klinken"), Mithu Sanyal ("Identitti") und Antje Rávik Strubel ("Blaue Frau")Bild: vntr.media

Der Deutsche Buchpreis ist einer der wichtigsten Literaturpreise in Deutschland. An diesem Montagabend (18.10.) trifft die siebenköpfige Jury ihre Entscheidung, welcher Autor, welche Autorin die Auszeichnung 2021 erhält. Sechs Romane gehen in den Wettbewerb um den mit 25.000 Euro dotierten Preis. 

Antje Rávik-Strubel: Blaue Frau

Antje Rávik Strubel lehnt an einer Brüstung und trägt einen Anzug
Antje Rávik-Strubel entführt den Leser ins RiesengebirgeBild: Philipp von der Heydt

Auf den Felsen am Ufer, jenseits der Birken, am Ende der Bucht erscheint die blaue Frau. Sie ist so deutlich, dass ihre Gestalt alles überstrahlt.
Das Licht fällt scharf auf die Felsen.

In Antje Rávik-Strubels Roman "Blaue Frau" geht es um Adina, auch Sala oder Nina genannt, die in Helsinki Zuflucht gesucht hat. Schon als Kind sehnte sie sich hinaus aus dem Dorf in Tschechien, in dem sie aufwuchs, in den tschechischen Krkonoše-Bergen. Dort verkaufte sie Glühwein, auch an deutsche Touristen, einer davon küsst sie gegen ihren Willen, weil sie ihm keinen Alkohol ausschenken will. Seine Freunde nennen ihn Ronny.

Diese Erinnerung prägt Adina: "Dass jemand wie Ronny ihr einfach seine Zunge in den Mund stecken kann, hängt vielleicht mit dem zusammen, was die Barkeeper meinen, wenn sie über deutsche Frauen reden. Sie reden oft über deutsche Frauen, manchmal sogar, wenn welche in der Bar sitzen und Cuba Libre durch die Strohhalme ziehen. Die Barkeeper sprechen kein Deutsch. Und die Frauen mit den Strohhalmen wissen nicht, was es bedeutet, wenn die Barkeeper beim Servieren des Cubra Libre grinsend fragen, ob sie glauben, Tschechen seien ein bisschen dumm im Kopf. Gut genug zum Liftsitze unter den Arsch klemmen, zum Dreck wegmachen oder als Sexspielzeug, billig wie die Hörnchen im Potraviny.
Vielleicht hatte Ronny gedacht, sie sei ein bisschen dumm im Kopf.
"

Trotzdem geht Adina nach Deutschland, absolviert zunächst einen Sprachkurs in Berlin, dann ein Praktikum in einem Kulturhaus in der Uckermark. Dort wird sie Opfer eines sexuellen Übergriffes, den niemand ernst nimmt. Adina wird zu einer unsichtbaren Frau, arbeitet schwarz in einem Hotel in Helsinki und beginnt eine Beziehung mit dem estnischen Professor Leonides, der Abgeordneter im EU-Parlament ist. Stück für Stück versucht sie herauszutreten aus der Unsichtbarkeit und wieder hinein ins Leben.

Der Roman berichtet auch von einer Erzählerin, die in Helsinki ist, um einen Roman zu schreiben und dort einer blauen Frau begegnet. Rávik-Strubel verwebt mit großem Geschick nicht nur zwei erzählerische Ebenen, sondern auch ein tschechisches Dorf, Berlin, die Uckermark, Estland und Helsinki, viele Sprachen und Orte, die Schicksale von Menschen, die sich auf einem Kontinent begegnen, auf dem sie sich frei bewegen dürfen, mit allen Gefahren und Freuden, die das mit sich bringt. Ein poetischer und stets spannender Roman über Europa, Erinnerung, Gewalt und Liebe.

Christian Kracht: Eurotrash

Porträtfoto von Christian Kracht
Christian Kracht wurde 1995 mit seinem Roman "Faserland" bekanntBild: Noa Ben-Shalom

Ich kämmte ihr mit einer weichen Bürste die Haare, die sie sich schon lange nicht mehr gewaschen hatte. Es war eine ganz behutsame Handbewegung, dieses Bürsten, und sie schloss dabei die Augen, als bereite es ihr Freude, und als ich fertig war, knipste ich ihr hinten eine Bernsteinspange ins Haar.
"Das ist schön, wenn Du mir die Haare kämmst."

In Christian Krachts neuem Roman kehrt ein namenloser Ich-Erzähler nach Zürich zurück und kümmert sich um seine alternde Mutter. Derselbe Ich-Erzähler irrte schon durch Krachts Debütroman "Faserland", der 1995 erschien und heute zu einem der bekanntesten deutschen Romane der 1990er-Jahre zählt. Damals reiste der Ich-Erzähler durch ganz Deutschland, von Sylt bis über die Schweizer Grenze nach Zürich. In "Eurotrash" erkundet der Erzähler nun die eigene Familie, die Beziehung zur Mutter und das Ende eines Lebens. Christian Kracht machte außerdem von sich Reden, als er bei der renommierten Poetikvorlesung an der Universität Frankfurt enthüllte, als Kind auf der Lakefield College School von einem Geistlichen missbraucht worden zu sein. In "Eurotrash" widmet er sich ganz der Mutter und seinem Leben mit ihr.

Mit großer Genauigkeit und ohne Pathos beschreibt der in der Schweiz geborene Autor Christian Kracht in "Eurotrash", wie es ist, bei der eigenen Mutter zu sein, wenn sie der Demenz anheim fällt. Der Erzähler blickt mit sarkastischem Humor, aber vor allen Dingen mit einer schonungslosen Zärtlichkeit auf das Leben. Kracht hat einen Roman geschrieben, der ganz unserer Gegenwart gewidmet ist und den Menschen, die in ihr leben. Das galt auch für "Faserland", aber erst in "Eurotrash" ist der Erzähler erwachsen geworden.

Mithu Sanyal: Identitti

Mithu Sanyal steht an einem Baum
Autorin Mithu Sanyal Bild: Guido Schiefer

"Scheiß Empire", sagte Priti zwei Wochen nach dem Yoga-Eklat und schaute beifallheischend zu Saraswati, doch die begann emsig, ihre Papiere einzupacken. "Imperialismus ist in Deutschland anders als in England", sagte sie ausweichend.

Sie wird von allen vergöttert: Prof. Dr Saraswati lehrt Postcolonial Studies an der Universität Düsseldorf, beschreibt sich als Person of Colour und ist ein Idol für die jungen Menschen in ihren Seminaren, die sich dem postkolonialen Widerstand verschrieben haben. Dann kommt es zum Skandal: Professorin Saraswatis Zugehörigkeit wird infrage gestellt, sie sei eigentlich weiß, wird im Internet behauptet. Online geht gegen sie die Hetze los, auf Demonstrationen fordern Studierende ihre Entlassung. Mittendrin versucht die Studentin Nivedita ihre Position zu finden. Sie zieht ins Gästezimmer der Professorin, stellt ihr viele intime Fragen, und beginnt ihren Platz als Frau in der Gesellschaft zu finden, außerhalb der Universität und der sozialen Netzwerke: "Saraswatis Lieblingssatz lautete: 'Wie Gustav Landauer sagt, ist die erste revolutionäre Handlung, gut mit den Menschen, die wir lieben, umzugehen.' Nivedita hatte es nie geschafft, dieses Zitat bei Landauer zu finden. Am nächsten kam vielleicht: Staat ist ein Verhältnis, ist eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie Menschen sich zueinander verhalten; man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht."

In ihrem Roman "Identitti" widmet sich die Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal mit subtilem Humor und großer Fachkunde dem zeitgenössischen akademischen Milieu und den Identitätsdebatten, die vor allem im Internet die Gemüter erhitzen. Die Szenen, die sie beschreibt, sind ebenso häufig amüsant wie beklemmend. Dieser Roman und seine humorvolle Suche nach dem Mittelweg ist das gegenwärtigste Buch auf der Shortlist.

Monika Helfer: Vati

Autorin Monika Helfer in einem Anzug im Garten
Monika Helfer begann setzt mit "Vati" ihre biographischen Erkundungen fortBild: Salvatore Vinci

Wir sagten Vati. Er wollte es so. Er meinte, es klinge modern. Er wollte vor uns und durch uns einen Mann erfinden, der in die neue Zeit hineinpasste. An dem eine andere Vergangenheit abzulesen war.

In "Vati" nutzt Monika Helfer das Leben ihres Vaters, um von ihrer eigenen Kindheit und Jugend zu erzählen. Wie andere Autoren des zurzeit sehr populären Genres der "Autofiktion", setzt sie damit das erzählerische Projekt fort, das sie mit ihrem Roman "Baggage" begonnen hat: die Erkundung des eigenen Lebens an der Grenze zwischen Autobiographie und Fiktion. 

Helfers Vater bleibt eine vielschichtige Persönlichkeit: Er trug eine Beinprothese, er war Witwer, er besuchte Schwulenbars, er liebte Literatur, er leitete das Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen. Festlegen kann die Erzählerin ihn nicht, obwohl sie Hilfe sucht bei jenen, die ihn ebenfalls gut kannten, zum Beispiel ihrer Stiefmutter, die sie nach ihrem Vater ausfragt.

"'Ich möchte einen Roman über ihn schreiben.'
'Wahr oder erfunden?'
Ich sagte: 'Beides, aber mehr wahr als erfunden. Wenn du etwas hättest?'
Sie: 'Warte damit, bis ich tot bin. Dann muss ich mich nicht ärgern.'"

Die Begegnung mit dem Vater ermöglicht es Monika Helfer, vom Aufwachsen in Armut und schwierigen Verhältnissen zu erzählen, auch das eine neue Entwicklung in der deutschen Literatur. Vor allen Dingen aber ist "Vati" ein Roman über die Suche nach der eigenen Herkunft; er legt Zeugnis ab darüber, wie schwierig diese Suche ist, wenn die eigene Herkunft bescheiden ist, und wie befreiend. Es ist die Freiheit des ungetrübten Blicks, die die bescheidene Herkunft ermöglicht, die Furchtlosigkeit vor der Wahrheit, und die Fähigkeit, Menschen so zu sehen, wie sie sind, mit allem Guten und allem Schlechten. Daraus hat Monika Helfer einen beeindruckenden Roman gemacht.

Norbert Gstrein: Der Zweite Jakob

Gstrein steht im schwarzen Hemd vor einem Baum
Autor Norbert Gstrein Bild: Oliver Wolf

Natürlich will niemand sechzig werden, jedenfalls nicht als Jubilar, und natürlich will niemand, der bei Sinnen ist, ein Fest, um das auch noch zu feiern, aber obwohl ich alles darangesetzt hatte, es zu verhindern, war ich in die erwartbaren Abläufe geschlittert und musste mich am Ende vielleicht wirklich als bedeutender Künstler, verdienter Bürger, und was dergleichen sonst für Würdigungen kurz vor dem Grabstein und kurz vor dem Vergessen stehen, ganz nach dem Geschmack des Publikums wie ein Pfau ausstopfen und vorführen lassen.

Jakob, so könnte man meinen, hat viel erreicht und dürfte zufrieden sein mit seinem Leben. Er ist ein bekannter Schauspieler, eine Biografie über ihn ist bereits in Planung, zu seinem 60. Geburtstag möchte man ihm große Ehrungen zukommen lassen.

Und doch ist Jakob nicht zufrieden: Denkt man zunächst, es ist die Zukunft, die ihn quält - das Altern, der Tod -, stellt sich bald heraus, dass das Gegenteil der Fall ist. Nicht das Altern kränkt ihn, sondern die Vergangenheit, die Bürde des Erinnerns. 

Als seine Tochter ihn fragt, was das Schlimmste sei, das er je getan habe, muss Jakob sich erinnern: an einen Filmdreh an der mexikanisch-amerikanischen Grenze, die Morde an Frauen und das Elend. Zunächst blieb er dazu auf Distanz - dann war er zweimal plötzlich mittendrin. Die Scham über das Vergangene nimmt ihm die Möglichkeit, glücklich in die Zukunft zu gehen. Zu lang hat Jakob sich der Vergangenheit entzogen, in der er Täter war.

"Blieb noch ich und die Ungeduld und Unzufriedenheit des Regisseurs, wann immer ich einen Einsatz hatte, seine Klagen, wo ich meinen Kopf hätte, woran ich schon wieder dächte und ob es mir wirklich so schwerfalle, mich in einen Grenzer hineinzuversetzen, ich würde ihn wie einen weltfremden Träumer spielen, ein bisschen mehr Sinistrität, ein bisschen mehr Härte, ja, vielleicht sogar Bösartigkeit könnte nicht schaden."

Norbert Gstrein hat einen tiefgründigen, spannende Roman geschrieben über einen Mann, der sich selbst entlarvt, Stück für Stück, und mit der Vergangenheit ringt und der Schuld, die er auf sich geladen hat, die er nicht mehr begleichen kann. Der in Tirol geborene Autor lebt in Hamburg und wurde bereits mit zahllosen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Alfred-Döblin-Preis und dem Österreichischen Buchpreis 2019.

Thomas Kunst: "Zandschower Klinken"

Das gelbe Buchcover von Thomas Kunst Zandschower Klinken
Wird vom Verlag als Roman über eine "Utopie" beschrieben: Thomas Kunsts "Zandschower Klinken"

Der Körper holt Luft. Der Körper tickt. Der Körper ist oft Heimat schwarzer, mitteilsamer Ränder. Der Körper kann verlängerte Besuchszeiten für unsere Schmerzen garantieren, falls wir mit ihm kooperieren. Der Körper macht sich keine Gedanken. Der Körper hält Gott für einen Koordinator. Der Körper hat ein Halsband. Der Körper fickt und lacht. Der Körper verlangt nach Gott. Der Körper besitzt Geisteskräfte. Der Körper hat Todesangst. Der Körper zeigt dir die nächste Frau. Der Körper ist ein Vorbestrafter.

Thomas Kunsts Roman beginnt mit einer ungewöhnlichen Szene: Claasen sitzt im Auto, sein ganzes Hab und Gut im Kofferraum. Vor sich, auf dem Armaturenbrett, liegt das Halsband seiner verstorbenen Hündin. Dort, wo es herunterfällt, will er anhalten und ein neues Leben beginnen. Er fährt so langsam und vorsichtig, wie es nur geht, und landet schließlich in Zandschow - einem Nest im äußersten Norden mit einem Feuerlöschteich im Zentrum. Was beginnt wie einer der zurzeit so beliebten Dorfromane, die die Gesellschaft wiederspiegeln wollen - man denke zum Beispiel an Juli Zehs Bestseller "Unterleuten" - entwickelt sich schnell zur einer literarischen Tour de Force, in der Kunst immer wieder dieselben Formulierungen und Passagen benutzt, Erzählperspektiven wechselt und mit viel großer literarischer Experimentierfreude und hohem Tempo von Zandschow erzählt: Hier finden sich die Menschen den prekären Verhältnissen mitten in der Pampa nicht mehr ab, sie wollen aus Zandschow ein Sansibar machen, in dem man arm sein, aber trotzdem paradiesisch leben kann, so verrückt, wie man eben will, und wie man es braucht.

Aus diesem Szenario entsteht ein kunstfertiger, literarische Grenzen sprengender Roman, der dem bürgerlichen Leben nichts abgewinnen kann: "Musste an meine Mutter und an mein Schwesterchen denken. Das Leben auf den Autobahninseln. Zandschow und Höverlake. Dusslig rumstehen und Durst haben. Ich hatte alles so restlos satt. Die militante Unentbehrlichkeit der Angehörigen im Betreuungsfall. Die Verschwendungssucht der Selbstgerechtigkeit. Die moralische Angriffslust der Empörung. Im glücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, die du liebst. Im unglücklichsten Fall hast du Eltern und Geschwister, kurz vor deinem Tod, die dir egal sind."

Der Autor Thomas Kunst wurde in Stralsund geboren und arbeitet in Leipzig. Sein Roman "Zandschower Klinken" gewann ihm bereits den Niederösterreich Literaturpreis 2018. Er ist zum ersten Mal für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Die Juroren des Deutschen Buchpreises 2021 auf einem Gruppenfoto
Die Jury 2021 (v. l. n. r.): Sandra Kegel, Anja Johannsen, Beate Scherzer, Anne-Catherine Simon, Richard Kämmerlings, Bettina Fischer, Knut Cordsen Bild: vntr-media

Der Deutsche Buchpreis wird im Rahmen der Frankfurter Buchmesse vergeben. Die Longlist umfasste 20 Titel. Vorbild ist der britische Booker-Preis. Im letzten Jahr gewann die Autorin Anne Weber den Preis für "Annette. Ein Heldenepos". 

Neben dem Deutschen Buchpreis wird auf der Frankfurter Buchmesse auch der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels vergeben, der jedes Jahr wichtige internationale Persönlichkeiten ehrt, die sich für den Frieden auf der Welt einsetzen. In diesem Jahr geht er an Tsitsi Dangarembga.

Anne Weber: Annette, ein Heldinnenepos