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Politik

Sibiriens schwarzer Schnee

Juri Rescheto
7. März 2021

Das Kohlebecken Kusbass in Sibirien ist eine der dreckigsten Regionen Russlands. Im Winter wird die Luftverschmutzung am deutlichsten: wenn sich sogar Schneeflocken schwarz färben. Aus Kissiljowsk Juri Rescheto.

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Russland schwarzer Schnee in Kissiljowsk
Bild: Juri Rescheto/DW

Wenn der Automechaniker Witali Schestakow im Winter den Weg vor seinem Haus freischaufelt, stößt er auf etwas, das aussieht wie Marmorplatten. Es sind aber keine Marmorplatten, sondern Schnee. Schwarzer Schnee. Denn mit dem Niederschlag der letzten Tage kamen auch große Mengen Kohlenstaub vom Himmel und hüllten Witalis Haus und seinen Garten in ein schmutziges Schwarz-Grau. "Manchmal ist dieser Staub so schlimm, dass das Handtuch, mit dem ich mir nach der Arbeit den Schweiß vom Gesicht wische, völlig verdreckt ist" - beschwert sich der 33-Jährige.

Witali Schestakow lebt in Kissiljowsk im Süden Sibiriens. Die Luftverschmutzung hier ist dramatisch, Kissiljowsk ist eine der dreckigsten Städte Russlands. Sie liegt im Kusbass, einem Kohlerevier, das auch "Russlands schwarzes Herz" genannt wird.

Russland schwarzer Schnee in Kissiljowsk | Witali Schestakow
Witali Schestakow will nur noch raus aus dem KusbassBild: Juri Rescheto/DW

Russlands schwarzes Herz

Seit den 1920er Jahren werden vor den Toren der Stadt Millionen von Tonnen Steinkohle gewonnen - vor allem für die Metallindustrie. Steinkohle ist die Existenzgrundlage der Menschen hier und zugleich ihr größtes Problem. Fast die Hälfte aller russischen Industrieabfälle entfällt auf diese eine Region.

Kissiljowsk mit seinen 86.000 Einwohnern zählt zu den Städten, die es am härtesten trifft. Große Mengen von Abfallprodukten der Steinkohleproduktion enthalten brennbare, giftige oder gar radioaktive Stoffe. Bei Windstille, klagen die Einwohner hier, sei der Smog durch den Abbau so schlimm, dass man kaum mehr atmen könne.

Russland schwarzer Schnee in Kissiljowsk
Die ganze Region im Süden Sibiriens lebt vom SteinkohlebergbauBild: Juri Rescheto/DW

Nach einer umfangreichen Studie der russischen Umweltschutzorganisation Ekosaschita sterben hier doppelt so viele Menschen an Atemwegserkrankungen wie anderswo in Russland. "Das ist wahrscheinlich der erste Bericht in meinem Leben, der alleine schon mit den Daten Angst macht, die man aus offiziellen Quellen bekommt", sagt Wladimir Sliwjak, einer der Autoren dieser Studie, gegenüber der DW. "Schon die Fülle schockierender Details dieser offiziellen Quellen zeigt, dass die Situation katastrophal ist."

Asthma, Lungenentzündungen, Corona

Sliwjak und die anderen Autoren der Studie fanden heraus, dass es im Kusbass 25 Prozent mehr Lungenentzündungen und über 40 Prozent mehr allergische Atemwegserkrankungen wie Asthma gibt als im russischen Durchschnitt. Möglicherweise ist auch dieser Umstand mit dafür verantwortlich, dass die Zahl schwerer COVID-19-Verläufe in der Kusbass-Großstadt Nowokusnezk und anderen Städten der Region besonders hoch ist. 

Witali Schestakow und seine Nachbarn halten das Leben in Kisseljowsk nicht mehr aus. Sie dokumentierten den schwarzen Schnee bereits vor anderthalb Jahren in einem Video und baten die Regierung in Kanada um Asyl. Eine Frau sagt in diesem Video: "Wir wollen nicht, dass unsere Kinder an Krebs erkranken, der durch die Umweltverschmutzung verursacht wird."

Russland schwarzer Schnee in Kissiljowsk
Überall in Kissiljowsk liegt ein dicker schwarzgrauer Schleier auf der geschlossenen SchneedeckeBild: Juri Rescheto/DW

Witali Schestakow erzählt, dass er darüber erstaunt war, "dass der kanadische Premierminister, der doch sehr weit weg ist, auf unser Video schneller reagierte als unsere eigenen Behörden. Unsere Machthaber haben es zuerst ignoriert. Später wurden wir vom Gouverneur als Verräter beschimpft."

"Schwarzer" oder "grüner" Kusbass?

Die DW hat den Gouverneur von Kusbass, Sergej Ziwiljow, mit den Vorwürfen der Umweltaktivisten konfrontiert. Auf die Anfrage hieß es aus seinem Büro, die Behörden täten alles, um die Schäden durch die Umweltverschmutzung zu minimieren. So seien seit 1998 mehr als 2500 gefährdete Familien umgesiedelt worden. In diesem und den kommenden zwei Jahren sollten weitere 406 Familien hinzukommen. Dafür seien für die Stadtverwaltung von Kissjeljowsk über 820 Millionen Rubel im Staatshaushalt vorgesehen, das entspricht mehr als neun Millionen Euro.

Auch habe die russische Regierung das Umweltschutzprogramm "Saubere Kohle - grüner Kusbass" gestartet. Im Zuge dessen seien moderne Filtersysteme installiert worden, die den Kohlestaub auffangen würden.

Russland schwarzer Schnee in Kissiljowsk | Natalia Subkowa
Die Aktivistin Natalia Subkowa kämpft seit Jahren gegen die Umweltverschmutzung in der Kusbass-Region.Bild: Juri Rescheto/DW

Davon spürten die Bewohner von Kissiljowsk aber nichts, kritisiert die Journalistin und Umweltaktivistin Natalia Subkowa. Seit Jahren prangert sie die Untätigkeit der Behörden an. Sie hat den Video-Appell der Einwohner von Kissiljowsk an die kanadische Regierung aufgezeichnet. Das Video machte Schlagzeilen in ganz Russland. Und Subkowa selbst werde seitdem von der Polizei eingeschüchtert, sagt sie: "Natürlich habe ich Angst. Aber in dieser Situation habe ich nicht nur Angst um meine Sicherheit und die Sicherheit meiner Familie, sondern auch Angst vor einer schlimmen, unheilbaren Krankheit, die ich eines Tages wegen der schlechten Luft bekommen könnte. Davor habe ich sogar viel mehr Angst als vor der Polizei oder den Behörden."

Auch Witali Schestakow glaubt seinem Gouverneur kein Wort. Stattdessen will der junge Mann, wie viele hier, nur noch weg aus Kissiljowsk. Doch so einfach ist das nicht: "Ich würde ja mein Haus verkaufen. Aber das ist unmöglich. Eine Wohnung kannst du noch irgendwie loswerden, aber ein ganzes Haus? Seit zwei Jahren versuche ich es. Da haben sich nur zwei Leute gemeldet."

Unterdessen hat die Regionalregierung des Kusbass verkündet, dass sie die Steinkohleproduktion sogar noch erhöhen wolle, um die weltweit fallenden Preise für den noch immer gefragten Rohstoff zu kompensieren. Und so sehen Witali Schestakow und seine Nachbarn auch für die Zukunft schwarz.

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Juri Rescheto Chef des DW-Büros Riga