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Politik

Sierens China: Die Kosten des Schweigens

Frank Sieren
4. Juni 2019

Mit ihrem beharrlichen Schweigen lädt die Partei den 30. Jahrestag der Niederschlagung der Protestbewegung am Platz des Himmlischen Friedens geradezu auf, meint Frank Sieren.

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China Tiananmen Square in Beijing
Der Platz des Himmlischen Friedens dreißig Jahre nach dem MassakerBild: Getty Images/AFP/M. Knight

Eines ist in diesen Tagen offensichtlich geworden: Die schrecklichen Erinnerungen an den 4. Juni 1989 werden in China überdeckt von dem Erfolg, vielleicht sogar dem Rausch einer historisch unvergleichlichen Modernisierung.

Das Gedenken hat es schwer, gegen eine Wirtschaft anzukommen, die in den vergangenen 30 Jahren durchschnittlich um 9 Prozent im Jahr gewachsen ist. Angesichts eines Jahreseinkommens, das sich seitdem im Durchschnitt von 200 US-Dollar auf 9600 US-Dollar erhöht hat. Inzwischen hat die Regierung in Peking fast ganz China aus bitterer Armut befreit: Ende der Achtzigerjahre lebten noch 70 Prozent der Menschen von weniger als zwei Dollar am Tag. Schon im nächsten Jahr, so der Plan, soll es fast niemanden mehr geben, der in so großer Armut leben muss. Und selbst wenn es noch ein paar Jahre dauern sollte, ist das eine historisch einmalige Leistung. Dieser wirtschaftliche Aufstieg bedeutet auch: Nie haben mehr Chinesen die Welt gesehen. Nie konnten Chinesen an mehr Informationen kommen als heute. Die staatliche Zensur lässt sich nach wie vor technisch einfach umgehen. Es ist also für fast für jeden möglich, nachzuschauen, was damals passiert ist.

Wenig Interesse an Erinnerungsarbeit

Dennoch ist das Interesse der Bevölkerung an der Erinnerungsarbeit gering, vor allem bei den Jungen, die 1989 noch nicht geboren waren. Die Erinnerung an die gewaltsam beendete Freiheitsbewegung scheint für ihre Zukunft keinerlei Bedeutung zu haben. Kaum jemand befürchtet offensichtlich, dass sich dieses Ereignis wiederholen könnte. Und tatsächlich geht die Partei heute macht-technisch geschickter vor, um mit dem vielfältigen Konfliktpotential umzugehen. Umfassende High-Tech-Überwachung und die Isolierung von Protesten macht es möglich, große Protestbewegungen im Keim zu ersticken. Die kommunistische Partei muss längst nicht mehr jeden Tag um ihre Macht zittern.

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DW-Kolumnist Frank SierenBild: Frank Sieren

Doch es ist gerade auch der unglaubliche wirtschaftliche Erfolg und der mächtige Überwachungsapparat, der die starre Haltung der Partei gegenüber der Protestbewegung selbst 30 Jahre nach dem Ereignis nur noch unverständlicher macht.

Dass die Partei dennoch nicht die Souveränität besitzt, zumindest den Müttern der Opfer öffentlich Raum zu geben, zu trauern, ist unklug. Sich auf die Position zurückzuziehen, dass die Partei so mächtig ist, dass niemand sie zwingen kann, über vergangene Ereignisse zu reden, ist womöglich kurzsichtig.

Kein Zweifel: Im Westen, besonders in Deutschland, ist die Erinnerungskultur vor allem auch gegenüber den eigenen Niederlagen stärker ausgeprägt als in China.

Mehr Souveränität ist gefragt

Längst sind interne Quellen bekannt, in denen Deng Xiaoping betont, dass es nicht die Studenten waren, die die blutige Niederschlagung ausgelöst haben, sondern am Ende die Uneinigkeit der Partei. Es spricht wenig dagegen, zumindest dies als offizielle Position festzulegen.

Das wäre jedenfalls ein Anfang.

Mit ihrem beharrlichen Schweigen hingegen lädt die Partei die Jahrestage geradezu auf. Derzeit allerdings international mehr als inner-chinesisch.

Doch wie die Welt China sieht, wird immer wichtiger. Die globale Softpower die das Schweigen der KP zum Jahr 1989 kostet, könnte Peking derzeit gut gebrauchen, um im Machtkampf um die neue Weltordnung zu punkten. Stattdessen bietet Peking den Gegnern im Westen weiter einen guten Grund, vor China zu warnen.

Unser Kolumnist Frank Sieren lebt seit zwanzig Jahren in Peking.