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Nachhaltig Ziegen halten in der Stadt

Alexandra Genova
27. April 2021

Die Ziegen des Vereins Street Goat weiden auf Brachflächen mitten in Bristol. Sie helfen beim Artenschutz und liefern Stadtbewohnern Milch und Käse.

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Eine Ziege steht auf einem besprühten Weltkriegsbunker auf dem Purdown Hill in Bristol
Ziege auf geschichtsträchtigem Beton - in Bristol betreiben Ziegen DenkmalpflegeBild: Alexandra Genova

Zwei Ziegen räkeln sich in der Sonne. Sie fühlen sich wohl in den Ruinen der alten Flugabwehrbatterie aus dem Zweiten Weltkrieg im Nordosten von Bristol. Die Beton-Überreste sind mit Graffiti besprüht. Sie befinden sich direkt neben dem Funkturm, dem Wahrzeichen der Stadt. Der sogenannte BT Tower steht auf dem Purdown Hill - in den vergangenen Jahren eher ein sozialer Brennpunkt als ein Ausflugsziel.  

Aber seitdem die Ziegen hier sind, hat sich das geändert, erzählt Mary Dobbing. Sie ist Landwirtin mitten in der Großstadt. "Alleinlebende Menschen kommen hierher, weil sie nun einen Grund haben, aus dem Haus zu gehen. Familien bringen ihre Kinder mit, damit sie die Tiere sehen", sagt Dobbing. Das sei aber kein Streichelzoo, betont sie. "Die Menschen sind manchmal geschockt, wenn wir erklären, dass die Tiere keine Haustiere sind. Eines Tages werden sie geschlachtet und gegessen. Und wir müssen betonen, dass das hier ein richtiger Hof ist." 

Mehrere Menschen stehen auf einer Weide zwischen Ziegen in Bristol
Menschen, die auf Ziegen starren: viel Besuch auf der Ziegenweide auf dem Purdown Hill im Frühling Bild: Alexandra Genova

Doch Street Goat - frei übersetzt: Großstadtziege - ist kein gewöhnlicher Bauernhof, er wird von einem Verein nach den Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft betrieben. Es gibt zwei Weideflächen, im Winter sogar fünf, und drei kleine Molkereien in und um Bristol. Mitglieder, wie Mary Dobbing, bezahlen einen Jahresbeitrag von 81 Euro. Außerdem übernehmen sie mindestens eine Melkschicht pro Woche.  

Keine der Molkereien ist lizenziert. Dafür müssten strenge gesetzliche Vorgaben eingehalten werden. Aber da den Mitgliedern die Ziegen faktisch gehören, dürfen sie die Milchprodukte selbst verbrauchen. Das Fleisch hingegen kann verkauft werden. Denn die Tiere werden in einem Schlachthof in der Nähe, in Langford, geschlachtet. Für das Fleisch gibt es immer eine lange Warteliste. 

Ein Landleben in der Stadt  

Begonnen hat alles 2016 in einer Kleingartenanlage neben dem Troopers Hill, einem Naturschutzgebiet im Osten von Bristol. Einer der beiden Ställe befindet sich noch immer dort. Manchmal entwischen die Ziegen und zertrampeln die Pflanzen den Gemüsebeeten ringsherum. Doch der Dung liefert wichtige Nähstoffe, deshalb finden die Kleingärtner das nicht so schlimm. 

Eine Frau streichelt eine Ziege
Mary Dobbing kümmert sich liebevoll um die Stadtziegen, weiß aber, dass sie gegessen werdenBild: Alexandra Genova

Guru Thiru gehört seit einigen Jahren zum Street-Goat-Team. Heute zeigt er der Praktikantin Ellie Kenyon, wie die Melkschicht um 7.30 Uhr abläuft. Kenyon versucht es bei Lily, einer zehn Jahre alten, weißen Saanenziege. Das Tier ist sehr tolerant und verzeiht, wenn an ihr gezerrt wird. Auch Bronwyn muss gemolken werden. Sie ist eine Golden-Guernsey-Ziege, eine seltene Art, und stammt von einem Bauernhof ganz in der Nähe. 

Nach dem Melken füllen die beiden die Milch in Flaschen ab und nehmen sie mit nach Hause. Kenyon macht daraus Käse. Sie erhitzt die Milch, gibt Zitrone dazu und fertig. Thiru dagegen stellt aus seiner Milch für sich und seine beiden Mitbewohner Labneh her - eine Art Frischkäse, wie er im Nahe Osten gegessen wird.  

Thiru kam im Alter von fünf Jahren wegen des Bürgerkriegs aus Sri Lanka nach Großbritannien. Sieben Jahre später reiste er im Sommer mit seiner Familie in die alte Heimat. Seine Mutter und seine Tante schenkten ihm dort eine Ziege. Sie hieß Lakshimi. Mit ihr verbrachte er den ganzen Sommer. Seither liebt er Ziegen.  

Guru Thiru melkt eine Ziege des Vereins Street Goat
Für Guru Thiru ist Street Goat die beste Verbindung von Land- und Stadtleben Bild: Alexandra Genova
Guru Thiru und Praktikantin Ellie Kenyon streicheln Ziegen
Streicheleinheiten vor dem Melken Bild: Alexandra Genova

Thiru arbeitet als Designer für visuelle und digitale Produkte. Die Arbeit mit den Tieren bei Street Goat empfindet er als bereichernd. Leidenschaftlich gerne arbeitet er mit den Nutztieren und engagiert sich im Verein bei der Verarbeitung der Produkte. Doch das Landleben als queere "Person of Color" könne ziemlich einsam sei, sagt Thiru. "Ich versuche einen Mittelweg zu finden. Ich lebe nun eine Mischung aus Land- und Stadtleben. Ich bin gern draußen bei den Tieren, habe aber gleichzeitig die Menschen um ich herum, die ich mag. Street Goat hat für mich das Beste aus beiden Welten."  

Gemeinschaftlich wirtschaften für den Eigenbedarf 

Street Goat ist ein sogenannter CSA-Betrieb. CSA heißt "Community Supported Agriculture", eine Form von solidarischer Landwirtschaft, die sich in Großbritannien immer weiter ausbreitet. In nachhaltiger Landwirtschaft, mit regenerativer Bodennutzung - wozu auch die weidenden Ziegen gehören - werden Produkte für den Eigenbedarf der Mitglieder erzeugt. Einige der Betriebe werden von Einzelpersonen geführt, andere sind in Gemeinschaftsbesitz. Sie haben gemeinsam, dass sie aus Graswurzelbewegungen entstanden sind, die sich mit Problemen der Landwirtschaft und Ernährung in der Region befasst haben. 

Für Patrick Holden, Milchbauer und Gründer des Sustainable Food Trust, einer Stiftung für nachhaltige Ernährung in Bristol, sind solche CSA-Betriebe eine Antwort auf die globale Umweltkrise. 

"Was soll werden, wenn wir die Ressourcen des Planeten durch nicht nachhaltige Anbaumethoden aufgebraucht haben?", fragt Holden. "Die Menschen wollen Teil der Lösung sein und das heißt Re-Lokalisierung der Lebensmittelsysteme: Lebensmittel verzehren, deren Geschichte man kennt, von Bauernhöfen in der Nähe des Wohnorts."  

Erhalt der Geschichte und der Artenvielfalt  

Am Purdown Hill helfen die Ziegen, die städtische Umgebung zu erhalten. Der Beton der historischen Geschützbatterien begann bereits, sich zu zersetzen, weil er im Laufe der Jahre von Brombeeren, Eschenschösslingen und Efeu überwuchert wurde. "Das ist genau das, was Ziegen gerne fressen, also haben wir sie mit Erlaubnis der Stadtverwaltung hierhergebracht und der Stadt so eine Menge Geld gespart", erklärt Dobbing.   

Eine Ziege weidet im Schatten des BT Towers in Bristol
Ohne es zu wissen hilft eine Ziege dem Erhalt von Kriegsrelikten im Schatten des BT Towers von BristolBild: Alexandra Genova

Street Goat arbeitet des Weiteren mit der Organisation Avon and Gloucestershire Wildlife Trusts (AWT) zusammen, die sich um die Naturschutzgebiete rund um Bristol kümmert. Die Ziegen werden auch eingesetzt, um im Winter invasive Arten aufzufressen. So kann sich die Flora und Fauna erholen und im Frühjahr wieder sprießen und gedeihen, erklärt Rebecca Lockwood vom AWT. 

"Es geht darum, die Artenvielfalt zu fördern", sagt Carol Laslett. Sie ist seit der Gründung von Street Goat im Jahr 2016 dabei und überwacht die Weidewirtschaft. "Auf dem Gelände am Bristol Parkway gibt es zum Beispiel einen seltenen kleinen Schmetterling, der seine Eier nur auf Wundklee ablegt. Die Ziegen sorgen dafür, dass drumherum das Gestrüpp niedrig gehalten wird, damit der Klee gedeihen kann." 

Laslett hält in der Nähe von Bristol ständig Ausschau nach Land, auf dem Ziegen für eine Weile weiden können. Gerade hat sie auf der Bridge Farm eine neue Käserei von Street Goat gegründet. Die Öko-Kommune hat sich auf einem Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert niedergelassen. Der Hof liegt im Schatten der vielbefahrenen Autobahn M32. 

"Street Goat ist ein großartiges Beispiel dafür, wie verschiedene Gemeinschafts- und Naturschutzprojekte zusammenarbeiten können", sagt Matt Cracknell, Projektmanager bei AWT.    

Die Gemeinschaft wächst und formt sich 

Einige Mitglieder bringen jahrelange Erfahrungen aus der Landwirtschaft mit zu Street Goat. Andere hatten zuvor nichts damit am Hut. Das Projekt wächst organisch mit den neuen Leuten, die ihre Ideen und Fähigkeiten mitbringen. Das wiederum formt und verändert die Arbeit des Kollektivs. 

Vier Ziegen knabbern an knospenden Zweigen
Ein urbaner Snack zum Reinbeißen - erst die Zweige, dann die ZiegenBild: Alexandra Genova

"Einige der Gründungsmitglieder kamen aus der ehemaligen Hausbesetzer-Szene. Ihr Ziel war es, Brachland zu nutzen und gleichzeitig Nahrungsmittel anzubauen. Sie wollten unabhängig sein von den großen kommerziellen Systemen", erklärt Laslett. "Aber inzwischen scheint es viel wichtiger zu sein, was das Projekt für die Gemeinschaft leistet - besonders seit der Corona-Pandemie." 

Als Street Goat im vergangenen Jahr nach Hirten suchte und einen Aufruf startete, meldeten sich 30 Freiwillige. Im Jahr zuvor waren es nur sechs. Und es gibt Interesse aus anderen Städten in Großbritannien. 

"Menschen aus Stroud, Glasgow und anderswo haben sich gemeldet, weil sie ähnliche Projekte aufbauen wollen", sagt Phoebe Hunter-Mcilveen. Sie hilft regelmäßig beim Melken und betreibt ihr eigenes Bio-Baumwollgeschäft. "Es ergibt einfach Sinn! Immer mehr Menschen denken: 'Wenn ich diese Milchprodukte konsumiere, möchte ich auch Teil der Produktion sein und verstehen, wo all das herkommt.' Und genau darum geht es." 

Korrektur 28.04.2021: In einer früheren Version dieses Artikels wurde fälschlicherweise die Autobahn M25 genannt. Tatsächlich handelt es sich um die M32

Urban Farming – Landwirtschaft mitten in der Stadt