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Die nationale Karte

Martin Schrader23. Oktober 2008

Die Bundesregierung hat in der Finanzkrise versagt, meint der frühere Außenminister Joschka Fischer. Einige Kolumnisten europäischer Zeitungen geben Fischer Recht und fürchten sich vor einem neuen deutschen Sonderweg.

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Joschka Fischer (AP Photo/Keystone/Alessandro della Bella)
Reine Wahlkampftaktik? Joschka Fischer wirft der Kanzlerin einen Schlingerkurs vorBild: AP

Seit die deutsche Bundesregierung sich einem EU-Hilfsfonds gegen die Finanzkrise verweigert hat, wächst in einigen Ländern Europas die Sorge, Deutschland setze in unsicheren Zeiten wieder auf nationale Alleingänge. Die liberale finnische Tageszeitung "Hufvudstadsbladet" meint am Donnerstag (22.10.2008): "Die Finanzkrise befördert eine bestimmte Art von nationalistischer oder auch patriotischer Denkweise." Die niederländische Zeitung "de Volkskrant" sieht das ebenso, will aber nicht alle Europäer über einen Kamm scheren. Den Regierungen Frankreichs und Großbritanniens attestiert die Zeitung ein gemeinsames Bemühen um eine Lösung auf EU-Ebene gegen die Finanzkrise. Nur Deutschland verhalte sich geradezu passiv in dieser Krise.

Merkel und Steinbrück am 5.10. im Bundeskanzleramt bei einer knappen Regierungserklärung zur Finanzkrise. Foto: Rainer Jensen dpa/lbn +++(c) dpa - Report+++
Merkel und Steinbrück am 5.10. im Bundeskanzleramt bei einer knappen Regierungserklärung zur FinanzkriseBild: picture-alliance/ dpa

Die drei Eckpfeiler deutscher Politik

Beinahe gleichlautend zitieren Kolumnisten im "Volkskrant" und in der "International Herald Tribune" (IHT) Altbundeskanzler Helmut Schmidt. Der habe davor gewarnt, dass Deutschland genau eins nie wieder sein dürfe: unberechenbar. Doch genau das scheine es nun wieder zu sein. John Vinocur erklärt in der IHT, Nachkriegsdeutschland habe sich in den vergangenen Jahrzehnten durch drei Eckpfeiler seiner Politik großes Vertrauen in der Welt geschaffen: Engagement in der EU, Verankerung im westlichen Bündnis sowie Kompetenz und Glaubwürdigkeit, die Deutschland allseits berechenbar gemacht habe. "In entscheidenden Momenten verschafften diese Qualitäten [Deutschlands] Freunden große Beruhigung", meint Vinocur. Und dann kritisiert er: "Deutschland im Herbst 2008 ähnelt diesem früheren Selbst weniger und weniger."

Fischers Fazit

"In einer ernsten Krise zeigt sich die Qualität einer Regierung und ihres Führungspersonals", meint Ex-Außenminister Joschka Fischer in seiner Kolumne für "Zeit online" und fährt fort: "In der derzeitigen Weltfinanzkrise wurden die beiden entscheidenden Akteure der Bundesregierung - Angela Merkel und ihr Finanzminister - dem Belastungstest nicht gerecht."

Deutschland spiele in dieser globalen Finanzkrise eine für Europa besonders wichtige Rolle, denn es sei die mit Abstand größte und wichtigste Volkswirtschaft der EU, schreibt die frühere Gallionsfigur der Grünen. Deshalb hätten in der Finanzkrise alle anderen Europäer auf Berlin geblickt - "und wurden bitter enttäuscht". Dass Deutschland keinen europäischen Krisenfonds wollte, sei in der Sache gut nachvollziehbar. Doch hätte die Bundesregierung stattdessen mit eigenen Vorschlägen für eine gemeinsame Politik in Europa aufwarten müssen.

Wenn es Ernst wird, steht Deutschland abseits

Die Bundesregierung habe jedoch ganz offensichtlich nicht an eine europäische Lösung gedacht oder auch nur an eine europäische Koordination, wirft Fischer der Kanzlerin vor. "Zurück bleibt der fatale Eindruck, dass der ökonomische Riese Deutschland in der Stunde der Not die nationale Karte spielt und sich nicht um Europa kümmert." In den anderen Hauptstädten – vorneweg in Paris und London – habe dies nicht nur offene Wut und Empörung ausgelöst, sondern auch tiefe Sorge und Misstrauen.

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.
Politikwissenschaftler Jan TechauBild: Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.

"Alle schlingerten"

Der Politikwissenschaftler Jan Techau hält diese Sorgen für unangebracht. Techau ist Programmleiter des Alfred-von-Oppenheim-Zentrums für Europäische Zukunftsfragen der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin. Er meint, der Eindruck eines deutschen Sonderwegs habe nur kurzfristig - und zwar um den 5. Oktober herum - aufflackern können. An diesem Tag trat die deutsche Kanzlerin vor die Presse und versicherte den deutschen Sparern, ihr Geld sei sicher. Deutschland habe sich aber schon wenige Tage später zurück ins EU-Glied begeben, als es gemeinsam mit anderen EU-Ländern einen Plan gegen die Finanzkrise verabschiedet habe, erinnert Techau.

Obwohl man der Bundesregierung einen Schlingerkurs in der Finanzkrise bescheinigen müsse, wie Techau sagt, sei dies noch längst kein Sonderweg. Denn sie habe sich damit genauso verhalten wie viele andere Regierungen auch. "Das ist ein Zickzack-Kurs, der in dieser Krise, in der keiner so recht wusste, was das richtige Rezept ist, auch von anderen Staaten gefahren wurde." Bestes Beispiel sei Großbritanniens Premierminister Gordon Brown. Der habe sich zuerst vehement gegen eine Verstaatlichung von Banken ausgesprochen. "Das ist derselbe Gordon Brown, der dann, als der Finanzplatz London am Wanken war, genau das vorgeschlagen und getan hat", erklärt Techau. Auch habe Brown sich lange gegen eine strengere Regulierung der Finanzmärkte gewandt. Nun werfe er sich dafür in Europa in die Bresche.

Plädoyer für weniger Pathos

Kein Staat in Europa sei auf diese Form der Krise und ihre unglaublich schnelle Entwicklung vorbereitet gewesen, sagt Techau. Das gelte auch für die USA. Dass innerhalb von Tagen die Meinung geändert werde, wenn eine Situation sich verschlimmere, sei deshalb verständlich. "Das ist kein Ruhmesblatt - nicht nur kein Ruhmesblatt für Deutschland, sondern insgesamt für die europäischen Nationen." Helmut Schmidt mit der großen historischen Lektion Deutschlands hier ins Feld zu führen, geht Techau jedoch nach eigenen Worten zu weit. Dieser historische Pathos sei nicht nur unangemessen, sondern lenke auch von der eigentlich wichtigen ökonomischen Debatte ab.