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Politik

Sozialismus, aber anders

1. Juni 2018

Was 1968 im Westen begann, blieb im Osten nicht unbemerkt. Auch in Jugoslawien gingen die Studenten auf die Straße, aber nicht, um das System zu stürzen, sondern um es zu reformieren. Doch das Gegenteil ist eingetreten.

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Studentendemonstration in Belgrad  1968
Bild: picture-alliance/dpa/UPI

Bücherregale vom Boden bis zur Decke, ein angenehmer Geruch von Papier in der Luft, auf dem kleinen Tisch in der Mitte des Arbeitszimmers zwei Bildbände in schwarz-weiß. Anka Jaksic nimmt eins in die Hand und blättert langsam. "Hier sieht man einen Polizisten, der einen Mann am Boden mit einem Schlagstock attackiert, auf der anderen Seite ein Polizeikordon", sagt sie. 

Sie war Vorsitzende der Fachschaft der Philosophischen Fakultät in Belgrad und lebte damals in der Studentenstadt, wo der Protest begann. "Es waren vier gleich aussehende Plattenbauten mit grauen Fluren, wir waren zu fünft in einem Zimmer. Ohne Bad. Es war ein armes Leben, ohne Geld für kulturelle Veranstaltungen“, erzählt Anka. 

Anka Jaksic
Anka Jaksic, eine Anführerin der Studentenbewegung 1968Bild: privat

Als am 2. Juni 1968 eine Veranstaltung für die Mitglieder der Jugendbrigade stattfand, wollten die Studenten auch dahin. Wegen eines Unwetters wurde die Veranstaltung jedoch in einen kleineren Raum verlegt. Die Folgen: Platzmangel. Limitierter Zutritt. Unruhen. Auseinandersetzungen. Der Beginn der 7-tägigen Demonstrationen.

"Die Jugendbrigadiere waren die Lieblinge des Regimes, sie passten in das ideologische System, sie entsprachen dem Prototypen des neuen sozialistischen Menschen, und sie wollte man mit dieser Aufführung belohnen. Wir Studenten haben keinen Zutritt bekommen. Diese Unterschiede, dass die können und wir nicht, das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte“, erinnert sich Anka Jaksic. 

Jugoslawiens Sonderrolle in den Jahren der Unruhen

In diesem denkwürdigen Jahr, als sich auf der ganzen Welt die Wut der Jungen gegen die etablierten Systeme richtete, nahm Jugoslawien eine Sonderrolle ein. Die Studenten in Belgrad, Zagreb und Sarajevo wollten das System nicht stürzen, aber sie rüttelten heftig am Fundament. Sie wollten es reformieren, sie wollten mehr vom versprochenen Sozialismus haben. Es war die Wut über eine Gesellschaft, die als heuchlerisch empfunden wurde, die die jungen Leute zum Protest trieb. Gegen die - wie sie sagten - rote Bourgeoise, gegen die Parteibürokratie und ihre Privilegien, für mehr Chancengleichheit. 

Anka Jaksic
Anka Jaksic würde heute gegen die Nationalisten demonstrierenBild: privat

Hohe Arbeitslosigkeit und eine gescheiterte Selbstverwaltungsreform - für viele war es eine unsichere Zeit. Auch wenn in Jugoslawien mehr Freiheiten zugelassen waren als in anderen sozialistischen Ländern, war die Ungleichheit in der Bevölkerung sichtbar. Der Widerspruch von Theorie und Praxis sollte korrigiert werden. "Die 68er waren nicht nur ein Protest gegen die Repressionen des Regimes, sondern auch im Konkreten gegen die Lebensbedingungen. Niemand wollte das System stürzen. Wir dachten, dass wir mit unserer kritischen Beobachtung, die Deformation des Systems korrigieren könnten. Das war naiv", erinnert sich Anka Jaksic. Eine Sache ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Eine Sache, mit der sie noch nicht abgeschlossen hat. 

"Am meisten hat mir weh getan, dass von uns Studenten so gesprochen wurde, als seien wir angestachelt worden. Das kann ich so nicht stehen lassen. Mich hat keiner gedrängt, keiner angerufen, wir haben uns autonom den Repressionen gegenübergestellt", wiederholt Anka Jaksic im Gespräch mehrfach ihre Überzeugung von der Authentizität der Proteste. "Einige von der Partei haben immer wieder davon gesprochen, wir seien von ausländischen Agenten gesteuert, oder die Professoren der Philosophischen Fakultät hätten uns dazu verleitet", erzählt Anka Jaksic. Gleichwohl, sagt sie, hätte es Transparente auf den Straßen gegeben, die nicht von den Studenten kamen und man nicht gewusst hätte, wer im Hintergrund bei den Protesten mitmischt. 

Archivmaterial zeigt die Studenten auf der Straße, sie singen laut die Hymne der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien und rufen "Genosse Tito, wir schwören auf Dich." Die Hoffnung, dass die Regierenden von sich aus den Kurs ändern, war groß - die darauf folgende Enttäuschung noch größer. 

Das Ende eines Traumes

Der Aufstand vom 2. bis zum 9. Juni in Belgrad wurde zunächst durch das politische Kalkül Titos zum Erliegen gebracht. Am 9. Juni trat Josip Broz Tito an die Öffentlichkeit und stellte sich mit staatsmännischen Kalkül an die Seite der Studenten. "Ich bin allerdings davon überzeugt, dass der Großteil, ich kann sagen, 90 Prozent der Studenten, rechtschaffene Jugendliche sind, um die wir uns nicht genügend gekümmert haben, in denen wir bloß Schüler sahen, Schüler in Schulen, für die noch nicht die Zeit gekommen war, in das gesellschaftliche Leben unserer sozialistischen Gemeinschaft einbezogen zu werden. Das war falsch. Wir haben sie sich selbst überlassen. Hier erkennen wir unseren Fehler", sagte Tito in seiner TV- und Radioansprache. 

"Die Jugend ist per Definition naiv. Die meisten Studenten damals haben geglaubt, dass Tito auf unserer Seite ist und dass er diejenigen, die nicht für das Staatswohl arbeiten, entfernen wird. Wir dachten, dass wir, die Studenten, gewonnen haben. Das war eine einzige Illusion", sagt Anka Jaksic.

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Auf dem Weg in die Belgrader Innenstadt: Studenten protestieren (1968)Bild: arhiv-beograda

Titos nach außen gezeigte Sympathie widersprach dem, was anschließend geschah. Viele Studenten wurden verhaftet, einige verurteilt. Anka Jaksic wurde verhört, später durfte sie in ihrem Beruf nicht aufsteigen, ihr Ehemann Bozidar Jaksic saß drei Monate in U-Haft. Andere Demonstranten wiederum wurden mit Angeboten gelockt und bekamen hohe Posten in der Regierung. Der siebentägige Aufstand hatte weitreichende Konsequenzen für den Vielvölkerstaat. Die Parteiführung zog die Zügel an und beendete ihren politischen Liberalisierungskurs. Es war der Beginn vom Ende Jugoslawiens.

Jugoslawien am Scheideweg

Das Ende der 1960er und der Anfang der 1970er waren entscheidend für die weitere Entwicklung des Vielvölkerstaates. Es war die Zeit, in der die zentrifugalen Kräften an Stärke gewannen. Die Stimmen für eine Dezentralisierung wurden lauter. Das abrupte Ende der 68er Proteste, die Absetzung des umstrittenen Vizepräsidenten Aleksandar Rankovics zwei Jahre zuvor öffneten die Türen für neue Strömungen: Der so genannte Kroatische Frühling, die Proteste im November 1968 im Kosovo für mehr Autonomie und die darauf folgende Radikalisierung waren die Konsequenzen.

Josip Broz Tito
In der Tschechoslowakei wurde Tito im August 1968 als ein wichtiger Unterstützer der Reformbewegung empfangenBild: picture-alliance/CTK Photo/J. Rublic

"Ich glaube, dass diese Bewegungen viel früher ihren Ursprung haben. 1968 war nur ein Test, der auf der einen Seite gezeigt hat, welche Rolle der integrative Faktor des Jugoslawentums in der Gesellschaft spielte und auf der anderen Seite, wie weit die nationalistischen Ideen gehen können", sagt Jaksic. 1968 hätte lediglich jene Bewegungen, die schon vor 1968 begannen, sichtbar gemacht.

Die Ideale für die die 68er gekämpft haben - mehr Sozialstaat, mehr Humanismus, mehr Gerechtigkeit: 50 Jahre, mehrere blutige Kriege und viele Tote und Vertriebene später scheint alles auf dem Scheiterhaufen der Geschichte zu liegen. Der aufflammende Nationalismus in der Welt beunruhigt auch die alte 68er-Generation. Auch mit 72 Jahren, sagt Anka Jaksic entschlossen, würde sie auf die Straße gehen, um gegen die extremen Rechten zu kämpfen.

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin