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Spekulieren auf hohem Niveau

Martin Schrader24. April 2002

Zweimal jährlich warten Politiker, Unternehmer und Wissenschaftler gespannt auf das Konjunktur-Gutachten der sechs führenden deutschen Wirtschafts-Forschungsinstitute.

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0,9 Prozent Wirtschaftswachstum, sagen führende WirtschaftsforscherBild: AP

Ihr Frühjahrsgutachten präsentierten die Experten am Dienstag (23. April 2002) in Berlin. Demnach ist dieses Jahr für Deutschland ein Wirtschaftswachstum von 0,9 Prozent zu erwarten. "Der Stellenwert dieses Gutachtens ist sehr hoch", sagt Wirtschafts-Professor Rudolf Hickel von der Universität Bremen im Gespräch mit DW-WORLD. "Vor allem bei der derzeitigen Unsicherheit über die wirtschaftliche Entwicklung ist das Gutachten von großer Bedeutung."

Die hohe Seriosität der Vorhersagen gründet laut Horst Tomann, Wirtschaftswissenschaftler an der Freien Universität Berlin, auf der breiten Forschungsbasis der Institute. "In das Gutachten gehen sehr unterschiedliche Wertungen ein und am Ende muss ein Konsens gefunden werden", so Tomann im Interview mit DW-WORLD. Keine Universität oder Bank verfüge über ein derart umfangreiches empirisches Forschungsmaterial.

Die Gutachten entstehen im Frühjahr und im Herbst jeden Jahres auf zweiwöchigen Treffen. Seit der ersten Konferenz im Jahr 1950 fanden mittlerweile 104 solche Zusammenkünfte statt. Diesmal nahmen daran etwa 60 Wissenschaftler teil.

Zwei Etappen

Während der ersten Konferenz-Woche erstellen die Wissenschaftler den ersten Teil ihres Gutachtens: eine Konjunkturdiagnose und eine Prognose über die internationale wirtschaftliche Entwicklung. In der zweiten Woche werden die Prognosetexte für Deutschland und die wirtschaftspolitischen Empfehlungen erarbeitet. Die Ratschläge beziehen sich vor allem auf die Finanz-, Geld- und Lohnpolitik. An dieser Etappe nehmen nur noch zwölf Wissenschaftler aus den sechs Instituten teil.

Auch am Ende dieser Woche soll ein Konsens darüber entstehen, welche Maßnahmen zur Förderung der Wirtschaft wohl am besten geeignet seien. Dies schreibt der Auftraggeber, das Bundesfinanzministerium, so vor. Es kommt jedoch in diesem Abschnitt immer wieder zu Meinungsverschiedenheiten, so dass einzelne Teilnehmer Minderheitsvoten abgeben.

Streit der Wissenschaftler

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) aus Berlin steht beispielsweise in dem Ruf, gerne den Staat zu öffentlichen Investitionen aufzufordern, um damit die Konjunktur anzukurbeln. Auch das Institut für Wirtschaftsforschung (IWH) aus Halle wird laut Tomann mitunter in diese Ecke gerückt. Das Institut für Weltwirtschaft aus Kiel vertraut lieber auf die Kräfte des Marktes als auf die Politik. Aus dem hohen Norden ergeht deshalb häufig der Rat, eine liberale Wirtschaftspolitik zu verfolgen und von einer Steigerung öffentlicher Investitionen abzusehen.

Die anderen Institute – das ifo Institut für Wirtschaftsforschung aus München, das HWWA-Institut für Wirtschaftsforschung aus Hamburg sowie das Rheinisch-Westfälische Institut (RWI) aus Essen - liegen mit ihren Empfehlungen oft zwischen diesen beiden Positionen. Mit parteipolitischen Vorlieben haben die Meinungsverschiedenheiten aber nichts zu tun: "Das ist ein Streit der Wissenschaftler um den richtigen Weg", so Hickel.

Auguren können irren

Für ihre Prognosen wenden die Institute unterschiedliche Methoden an. Ein Bestandteil sind Konjunkturindikatoren wie der Ifo-Index, Auftragseingänge in der Industrie und andere Statistiken. Daneben werden zahlreiche wirtschaftliche Szenarien mit verschiedenen Annahmen aufgestellt: Was passiert, wenn der Ölpreis steigt; wie wirkt sich eine Veränderung des Wechselkurses von Euro und Dollar aus; wie stark könnten Exporte in die USA steigen (oder fallen); welche Leitzinsen sind zu erwarten?

Größtes Problem der Auguren: Wenn ein ein wichtiges Detail unvorhergesehen stark von allen Annahmen abweicht, steht die gesamte Prognose auf wackligen Beinen. Ein Beispiel ist der Ölpreis. Sollte er in den nächsten Monaten wegen einer Zuspitzung der Krise im Nahen Osten kräftig anziehen, könnte dies den vorhergesagten Aufschwung der Weltwirtschaft gefährden.

Vor falschen Vorschauen kann deshalb auch die geballte Kompetenz der sechs Forschungsinstitute nicht schützen. Die Experten müssen sich das auch immer wieder selbst eingestehen. Während sie etwa in ihrem Herbstgutachten für das Jahr 2002 noch ein deutsches Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent vorhergesagt hatten, korrigierten sie im Frühjahrsgutachten diesen Wert auf 0,9 Prozent. Wirtschaftsprofessor Hickel warnte deshalb: "Wer Prognosen macht, muss wissen, dass er sich irren kann."