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Spitze Feder und rundes Leder

2. Juni 2006

Seit Jahrzehnten pflegen Vertreter der literarischen Zunft ein schon fast demonstratives Unverhältnis zum Fußball. Aber nicht alle. Und schon gar nicht, wenn eine Weltmeisterschaft ansteht.

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Deutschlands Torhüter Nr. 2, Oliver Kahn, präsentiert sein Buch 'Nummer eins'Bild: AP
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki
Marcel Reich-RanickiBild: picture-alliance / dpa

Am liebsten möchte Marcel-Ranicki sofort den Telefonhörer auflegen. "Ich habe keine Ahnung, wollen Sie mich quälen?", sagt der Literaturkritiker genervt. Die Frage nach seinem persönlichen Verhältnis zum Fußball und zur Bedeutung des Ballspiels als Thema in der Literatur bleibt wenige Wochen vor dem Anpfiff der Fußball-WM am 9. Juni in München ohne Antwort. Auch Martin Walser, der Literat vom Bodensee, wehrt ab: "Ich habe keinerlei Zugang, nicht alles ist für mich formulierbar."

Distanz, ein fast schon demonstratives Unverhältnis galt Jahrzehnte als typisch für die Beziehung der Literaturklasse zum Fußball, zum "Proletensport" halt. Individualisten und Mannschaftstümmelei um ein Stück aufgepumptes Leder, wie sollte das zusammenpassen?

Fußball - ein Spiegel der Gesellschaft

Inzwischen aber haben viele - nicht nur jüngere - Autoren ihre Liebe zum runden Leder bekannt. Das Tabu, Fußball zu mögen, ist längst gebrochen, fast schon ins Gegenteil gekippt. "Rettet den Fußball vor den Intellektuellen", schrieb das Magazin "Der Spiegel" schon angesichts einer Flut von Büchern und Essays, die die Faszination Fußball und die gesellschaftlichen Oberflächen- und Tiefenwirkungen zu ergründen suchen. Typische Argumente: Fußball ist eine Weltsprache, sie wird überall verstanden. Fußball ist Kunst, Ästhetik, Drama, Theater, Krieg, Überlebenskampf, Opium fürs (arbeitslose) Volk, Brot und Spiele, Ersatzreligion, zunehmend Kommerz - kurzum ein Spiegel der Gesellschaft.

Kempowski
Walter KempowskiBild: dpa

Dabei geht es auch ganz einfach. "Ich habe großes Interesse an Fouls und Schwalben, ich mag das Posieren der Spieler und habe eine Faible für markante Typen wie Oliver Kahn", bekennt Walter Kempowski. Der Autor aus dem niedersächsischen Dorf Nartum mag die Ästhetik und Spannung des Fußballs, auch wenn der 77-Jährige Zeit seines Lebens nicht Sport getrieben hat. Eine gesellschaftskritische Überladung des Themas lehnt er ab: "Lasst die Leute sich freuen, dann haben sie was zu tun." Sein Wunschfinale: Deutschland gegen Trinidad und Tobago, "weil die bei uns in der Nähe ihr Domizil haben."

"Ich will nicht, dass Deutschland gewinnt"

Als Enthusiast bekennt sich auch Thomas Brussig. Der Berliner Autor, 1965 in Berlin geboren, hat im vergangenen Jahr ein deutsches Team für eine so genannte erste Fußball-Weltmeisterschaft der Schriftsteller federführend zusammengestellt. "Ich war sozusagen der Oliver Bierhoff." Dass in der Toskana lediglich vier Mannschaften kickten und neben Italien und Ungarn ein skandinavisches Kollektiv auflief, war unwichtig (Deutschland belegte übrigens den zweiten Platz).

Brussig
Thomas BrussigBild: dpa

Gesellschaftliche Fein-Analysen können Brussig nicht sonderlich beeindrucken: "Fußball ist eine Obsession für etwas völlig Sinnloses, aber Ungefährliches. Im Namen Gottes wurden in der Geschichte schon viele Kriege geführt, im Namen des Fußballs bisher nur einer - und der war zudem nach vier Tagen vorbei", sagt Brussig mit Blick auf die militärischen Auseinandersetzungen nach einem WM-Qualifikationsspiel zwischen Honduras und El Salvador im Jahre 1969.

Erich Loest widert die politische Vereinahmung von Fußballerfolgen an. "Deshalb will ich diesmal auch nicht, dass Deutschland gewinnt." Bundeskanzlerin Angela Merkel solle sich im Stadion langweilen, "weil sie andere Aufgaben hat, etwa die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit". Während Brussig ein Theaterstück über Fußball geschrieben und Kempowski in seinen Tagebüchern ein paar Anmerkungen notierte, hat Loest dem Fußball gleich zwei Romane gewidmet. Der Krimi "Der Mörder saß im Wembley-Stadion" ist jetzt neu erschienen.

Fußballbegeisterter Literaturnobelpreisträger

Zu den Klassikern der Literatur, die Fußball als Hintergrund haben, zählt Loest Peter Handkes schon zum Sprichwort gewordene Erzählung "Die Angst des Tormanns beim Elfmeter" (1970). Ein internationaler Erfolg war auch Nick Hornbys autobiografisch gefärbter Roman "Fever Pitch" über das Innenleben eines Fans von Arsenal London. Ein grundsätzliches Problem, über Fußball zu schreiben, sieht Brussig. "Das Spiel entsteht und fasziniert im Augenblick des Sehens, warum sollte man es in Literatur und Film nachgestalten?"

Günter Grass im Millerntorstadion in Hamburg
Günter Grass liest im St. Pauli-Stadion am Millerntor in HamburgBild: AP

Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat es in seiner Chronik "Mein Jahrhundert" in einer kurzen Passagen über die Weltmeisterschaft 1954 getan. Das legendäre Siegtor von Helmut Rahn beschreibt er mit Verve: "Jetzt schießt er aus dem Lauf, nein, umspielt er zwei Gegner, die sich ihm entgegenwerfen, ist an weiteren Verteidigern vorbei und versenkt mit linkem Fuß aus gut vierzehn Metern Entfernung die Bombe im unteren linken Toreck." Dabei hat Grass, bekennender Fan des örtlichen VfB Lübeck, des SC Freiburg und des "Weltpokalsiegerbesiegers" FC St. Pauli, eigentlich nie selber gespielt. (dpa)