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Sportlerinnen in Afghanistan: Gefangene im eigenen Haus

25. April 2022

Seit acht Monaten herrschen die Taliban wieder über Afghanistan. Die Schlagzeilen darüber sind selten geworden. "Die Welt vergisst Afghanistan", sagt Friba Rezayee, die erste Frau, die für das Land bei Olympia startete.

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Training des afghanischen Judo-Teams am Tag vor der Rückkehr der Taliban
Training des afghanischen Frauen-Judo-Teams kurz vor der Rückkehr der Taliban nach KabulBild: Friba Rezayee

Aus ihren Worten spricht tiefe Verzweiflung. "Ich wünschte, ich hätte nie existiert", schreibt Amira (Name geändert). "Ich habe nichts Falsches getan. Das einzige Verbrechen, das ich begangen habe, ist, Sport zu treiben." Bevor die Taliban im August 2021 die Macht in Kabul übernahmen, war Amira eine der besten Judo-Kämpferinnen des Landes. Vor wenigen Wochen durchsuchten die Taliban ihr Haus nach Dokumenten, die belegen sollten, dass die junge Frau Mitglied des afghanischen Nationalteams war.

"Zum Glück konnte sie fliehen. Sie versteckte sich den ganzen Tag lang auf einem örtlichen Friedhof und betete, dass die Taliban sie dort nicht finden würden", berichtet Friba Rezayee der DW. "Hätte man diese Dokumente in ihrem Haus gefunden, hätte man sie vor ein Scharia-Gericht gestellt. Das hätte bedeutet, dass sie entweder 100 Peitschenhiebe erhalten hätte oder sogar öffentlich hingerichtet worden wäre."

Drohbriefe der Taliban

Rezayee war einst in Afghanistan selbst eine erfolgreiche Judoka. Sie und die Leichtathletik-Sprinterin Robina Muqim Yaar wurden 2004 in Athen die ersten Frauen, die jemals für Afghanistan bei Olympischen Spielen starteten. "Das war eine Sportrevolution", erinnert sich Rezayee. 2011 floh sie aus Afghanistan nach Kanada. Dort gründete die 36-Jährige die Hilfsorganisation "Women Leaders of Tomorrow" (WLT), die geflüchteten Frauen aus Afghanistan eine Hochschul-Ausbildung ermöglicht.

Mit ihrem Sportprogramm GOAL (Girls of Afghanistan Lead) unterstützt die Organisation zudem Afghaninnen in Kampfsportarten wie Judo oder Taekwondo. Und Rezayee hält Kontakt zu rund 130 afghanischen Sportlerinnen, die - im Gegensatz etwa zu den Frauennationalspielerinnen des Landes - nicht das Glück hatten, nach der Machtübernahme der Taliban ausreisen zu können.

Diese Frauen, die zurückbleiben mussten, verstecken sich weiter in ihren Häusern und "warten gewissermaßen darauf, dass die Taliban an der Tür klopfen und sie verhaften", berichtet Rezayee. "Die Taliban haben ihnen Drohbriefe geschickt. Sie wurden eingeschüchtert. Sie können nicht nach draußen gehen, sie können sich nicht ausweisen."

Afghanistan I  Sportlerin versteckt sich vor den Taliban auf einem Friedhof
Amira (Name geändert) versteckte sich vor den Taliban auf einem FriedhofBild: Friba Rezayee

Judoka Amira beschreibt die dramatische Lage der Sportlerinnen so: "Wir brauchen kein Gefängnis für Frauen in Afghanistan. Unsere Häuser sind zu Gefängnissen für uns geworden." Afghanistan, so Mina (Name geändert), eine weitere dort gebliebene Judoka, "ist ein vaterloses Land geworden, in dem gewalttätige Kinder die Macht haben, mit Frauen und Mädchen zu machen, was sie wollen".

Volleyball-Spielerin brutal zusammengeschlagen

Noch haben die Taliban Frauensport nicht offiziell per Gesetz verboten - wohl aus taktischem Kalkül. Sie haben offenbar aus der Vergangenheit gelernt. Während der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 hatte das Internationale Olympische Komitee (IOC) Afghanistan von den Spielen 2000 in Sydney ausgeschlossen, unter anderem weil die radikalen Islamisten Sportlerinnen diskriminierten. An dieser Haltung der Taliban habe sich nichts geändert, sagt Rezayee: "Nach ihrer Auslegung der Scharia ist Frauensport eine Sünde. Sie glauben, dass sexuelle Signale an Männer gesendet werden, weil der Körper der Frau und ihre körperliche Aktivität sichtbar werden. Frauen dürfen nicht einmal in einer Sporthalle trainieren." 

Afghanistan I Taliban im Trainingsraum des Judo Teams
Taliban im Trainingsraum des Judo-TeamsBild: Friba Rezayee

In Afghanistan herrsche ein Klima der Einschüchterung und Angst. So sei kürzlich eine Spielerin des afghanischen Volleyball-Nationalteams festgenommen worden, berichtet Rezayee: "Die Taliban schlugen sie brutal zusammen. Sie hatte am ganzen Körper furchtbare Blutergüsse. Die Taliban ließen sie am Leben, weil sie anderen Sportlerinnen zeigen wollten, was ihnen passiert, wenn sie Sport treiben."

Fokus der Weltöffentlichkeit auf Ukraine

Nach wie vor versuchen Rezayee und ihre Mitarbeitenden bei WLT, bedrohte afghanische Sportlerinnen außer Landes und damit in Sicherheit zu bringen. Doch selbst wenn dies gelingt, bleibt das Problem, wo die Geflohenen dauerhaft bleiben können. Die kanadische Regierung etwa konzentriere sich in ihrer Flüchtlingspolitik auf ehemalige afghanische Ortskräfte der kanadischen Armee und deren Familien, Sportlerinnen blieben außen vor, beklagt Rezayee. "Selbst in Europa ist es ungeheuer schwierig, Einreisevisa für sie zu bekommen." Erschwerend komme der Ukraine-Krieg hinzu. "Die ganze Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit richtet sich auf die ukrainischen Flüchtlinge. Und die Welt vergisst Afghanistan."

Von den großen Sportorganisationen fühlt sich die afghanische Sportpionierin im Stich gelassen. Den Weg der "stillen Diplomatie" mit den Taliban, den Verbände wie das IOC propagieren, hält Rezayee für falsch. "Wenn sie sie legitimieren, gewinnen die Taliban. Das wird einen historischen Präzedenzfall schaffen: Das Böse gewinnt. Wir aber wollen, dass die Prinzipien des Sports, der Bildung und der Menschenrechte über die Männer mit den Gewehren siegen." 

Druck kann Wirkung zeigen

Nach der Machtübernahme der Taliban vor acht Monaten hatte lediglich der Cricket-Weltverband ICC damit gedroht, Afghanistan wegen der Haltung zum Frauensport auszuschließen. Zuletzt war das ICC aber zurückgerudert. Jetzt spielt der Verband offenbar auf Zeit: Man werde "das afghanische Männerteam weiterhin dabei unterstützen, international Cricket zu spielen und gleichzeitig die Leitung des Sports im Land beobachten, inklusive der Entwicklung des Frauensports", hieß es nach einer Vorstandssitzung in Dubai Anfang April. 

Friba Rezayee
Friba Rezayee appelliert an die Sportverbände, Druck auf die Taliban auszuübenBild: Darryl Dyck/empics/picture alliance

Friba Rezayee kann das zögerliche Verhalten der Sportverbände nicht nachvollziehen. "Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt, um Druck auszuüben: ohne Mädchenbildung und ohne Frauensport keine Legitimität", fordert die Exil-Afghanin mit kanadischem Pass. Internationaler Druck könne auch bei den radikalen Herrschern in Afghanistan einiges bewirken. "Denn so sehr die Taliban auch mit ihrer Ideologie verheiratet sind, so empfindlich reagieren sie doch auf das Meinungsbild über sie. Sie sind sehr brutal, sie sind böse. Aber sie sind auch nicht dumm. Sie sind sich bewusst, dass die Welt sie beobachtet, insbesondere die Menschen in den sozialen Medien."

Die letzte Glühbirne

Aufgeben kommt für die erste Frau, die für Afghanistan bei Olympischen Spielen startete, nicht in Frage - auch wenn sie häufig Drohungen aus ihrem Heimatland erhält. "Daran bin ich gewöhnt", wiegelt die Gründerin von "Women Leaders of Tomorrow" ab. Sie kämpfe weiter, weil sie sich ihren Sport treibenden Landsfrauen verpflichtet fühle.

"Immer, wenn sie mich anrufen oder mir eine Nachricht aus Afghanistan schicken, weinen sie und sind untröstlich. Ihr Lebensmut stirbt", sagt Friba Rezayee. "Wenn eine Athletin ihre Motivation verliert, ist es so, als würdest du einer Mutter ihr Kind wegnehmen. Die Arbeit, die wir leisten und um die ich auch die internationale Gemeinschaft bitte, dient nicht nur dazu, das Leben der Sportlerinnen in Afghanistan zu retten, sondern auch, ihre Hoffnung aufrechtzuerhalten. Hoffnung ist die letzte Glühbirne, die noch brennt. Wir dürfen dieses Licht nicht verlöschen lassen."

DW Kommentarbild Stefan Nestler
Stefan Nestler Redakteur und Reporter