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Historiker Ulrich Herbert zu 1 Jahr Sarrazindebatte

30. August 2011

Die durch den SPD-Politiker Thilo Sarrazin Ende August 2010 entfachte Integrationsdebatte ist ein Jahr her. Der Historiker Professor Ulrich Herbert bewertet die Diskussion und die deutsche Einwanderungspolitik.

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Ulrich Herbert, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg (Foto: Universität Freiburg)
Professor Ulrich HerbertBild: Universität Freiburg

DW-WORLD.DE: Hat Thilo Sarrazin mit seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" Spuren in Deutschland hinterlassen?

Ulrich Herbert: Wenn man die Ausländerdebatte seit Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik verfolgt, dann kann man mit ziemlicher Regelmäßigkeit alle fünf bis sechs Jahre eine solche Diskussion feststellen. Die immer darum kreist: Sind die Ausländer integriert? Sollen sie bleiben, sollen sie gehen? Verhalten sie sich richtig, verhalten sie sich falsch? Brauchen wir mehr, brauchen wir weniger? Ich glaube nicht, dass diese Debatte einmal eine besonders große Bedeutung haben wird. Dazu ist sie zu wenig inhaltlich geführt worden. Wir haben eigentlich keine Ausländerdebatte geführt, sondern eine Sarrazin-Debatte über dessen Wohlanständigkeit oder Nicht-Wohlanständigkeit.

Hat die Debatte dem Zusammenleben von muslimischen Migranten und Deutschen geschadet?

Es gibt eine ganze Reihe von Reaktionen von Vertretern ausländischer Gruppierungen, die das nahelegen. Ich habe allerdings den Eindruck, dass diese aufgeregten Dauerdebatten um Integration und Ausländer das wirkliche Zusammenleben von Ausländern und Deutschen nur am Rand berühren. Sondern, dass - im Gegensatz zu wichtigen, aber doch nicht zentralen Problemen - das Zusammenleben von Ausländern und Deutschen ganz gut funktioniert. Das sieht man insbesondere am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft, wo die Kontakte am nächsten sind.

Weist Thilo Sarrazin aber nicht doch auf tatsächliche Missstände hin?

Für einen Großteil der ausländischen Bewohner hier in Deutschland trifft zu, was auch die meisten Migrationshistoriker sagen: dass das im internationalen Vergleich eher eine Erfolgsgeschichte ist. Wir haben allerdings, und darauf hat Sarrazin hingewiesen, Problemzentren in bestimmten Städten. Auch in bestimmten Regionen und unter bestimmten Zuwanderern. Das sind in der Tat große Probleme. Man darf aber diese Teilprobleme nicht mit der Gesamtsituation verwechseln. Insofern ist der durch das Buch hervorgerufene Eindruck so einer katastrophischen Situation völlig überzogen.

Hatte die durch das Buch angefachte Debatte über gelungene und nicht gelungene Integration trotzdem einen Nutzen?

Die von Sarrazin angesprochenen - und seit vielen Jahren diskutierten - Fragen sind wichtig. Und sie betreffen eine Situation, die in Zeiten der Globalisierung alle westlichen Industriestaaten betrifft: Nämlich die Zuwanderung von Menschen aus anderen Ländern und Regionen.

Wie sah die deutsche Einwanderungspolitik in der Vergangenheit aus?

Die Zuwanderer kamen in ein Land, das bis in die späten 1990er Jahre steif und fest von sich behauptet hat, es sei kein Einwanderungsland. Obwohl bis zu acht Millionen Ausländer hier lebten. Deutschland hat eine Politik betrieben, die besagte: 'Diese ganzen Ausländer sind vorübergehend hier. Das sind Gastarbeiter, die gehen wieder'. Nachdem erst die westdeutsche und nach dem Fall der Mauer die gesamtdeutsche Gesellschaft zu einem erheblichen Teil gesagt hat: 'Nein, wir sind kein Einwanderungsland. Diese Menschen sollen wieder weggehen', kam dann die jähe Wendung in den Jahren nach 2000 mit dem Vorwurf: 'Die haben sich noch nicht integriert", überraschend. Denn dieses Land hat jahrzehntelang die Integration nicht nur nicht gewollt, sondern auch mit staatlichen Maßnahmen zu verhindern versucht. Dadurch sind Widersprüche und Brennpunkte entstanden, die außerordentlich problematisch sind.

Welche Lösung schlagen Sie vor?

Würden wir in der Bundesrepublik etwas ruhiger und etwas präziser über die tatsächliche Lage von Einwanderern in Deutschland sprechen, im positiven wie im negativen, dann könnten wir auch klarer formulieren, was von Ausländern, die hier leben, verlangt wird: dass es klare Regeln und Grenzen gibt für das Verhalten von Deutschen wie von Ausländern in diesem Land. Und dass man die definieren und gesellschaftlich darüber einen Konsens herstellen muss. Das sind die Diskussionen, die geführt werden müssen. Die im Übrigen auch geführt werden. Nur nicht so öffentlich, nicht so laut. Aber das ist vielleicht auch ganz gut so.

Ulrich Herbert ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Freiburg. Er befasst sich seit Jahren mit der Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland.

Die Fragen stellte Klaudia Prevezanos.
Redaktion: Michael Borgers