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Literatur

Stefan Zweig: "Ungeduld des Herzens"

6. Oktober 2018

Ein Blick zurück in die Zeit der ausgehenden Donaumonarchie. Der Österreicher Stefan Zweig beschwört noch einmal die Welt von gestern. Es ist Sommer, man schreibt das Jahr 1914, ein Weltkrieg steht vor der Tür.

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Österreich Stefan Zweig Schriftsteller
Bild: picture-alliance/Imagno

In einer Garnisonsstadt an der ungarisch-slowakischen Grenze wenige Monate vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der fesche junge k. u. k.-Leutnant Anton Hofmiller ist angetan von einer hübschen jungen Frau, die er beim Stadtbäcker beobachtet, wo sie Bestellungen aufgibt für den nahe gelegenen Gutshof von Kekesfalva.

Er arrangiert es, zu einer Tanzgesellschaft auf dem Adelshof eingeladen zu werden. Dort kommt es jedoch zu einem peinlichen Eklat, als er aus Höflichkeit die erst siebzehnjährige Tochter des Gutsbesitzers zum Tanzen auffordert. Sie sitzt in einem Nebenraum, abseits vom fröhlichen Treiben, teilnahmslos.

Als sie so unerwartet zum Tanz gebeten wird, bricht sie in Tränen aus. Die Tanzaufforderung wird letztlich zum Skandal. Was der junge Leutnant nicht wusste: Das junge Mädchen ist gelähmt. 

"Ungeduld des Herzens" von Stefan Zweig

Die Gefahren des Mitleids

Was folgt, ist ein Versuch der Wiedergutmachung. Der Leutnant wird zum täglichen Dauergast auf Gut Kekesfalva, freundet sich mit dem launischen und früh verbitterten Mädchen an.

Er tut dem Mädchen gut und stellt auch bei sich einen überraschenden Wandel fest: "Immer erst, sobald man weiß, dass man auch andern etwas ist, fühlt man Sinn und Sendung der eigenen Existenz." Er nimmt das als Wendepunkt im eigenen Leben wahr: "Mit diesem einen plötzlichen Zügelriss begann es. Es war gleichsam das erste Symptom jener sonderbaren Vergiftung durch Mitgefühl."

So wird er zum Kümmerer aus Mitleid. In seiner Unbesonnenheit geht er soweit, dass er der jungen Edith von Kekesfalva einredet, sie stehe kurz davor, geheilt zu werden. Das gibt ihr neuen Lebensmut. Doch was für ihn  ein Akt des Mitleids ist, missversteht das noch unerfahrene Mädchen als Ausdruck von Liebe. Und damit nimmt die Geschichte eine fatale Wendung: "Es ist eine verflucht zweischneidige Sache mit dem Mitleid; wer damit nicht umzugehen weiß, soll die Hand davon lassen und vor allem das Herz."

Filmstill Vor der Morgenröte
Verloren im Exil: Stefan Zweig (gespielt von Josef Hader) im Kinofilm "Vor der Morgenröte" (2016)Bild: X Verleih

Dr. Condor, aufopferungsvoller Arzt der jungen Kranken, ordnet das klarsichtig ein. Er unterscheidet zwischen einer sentimentalen Form des Mitleids, die "eigentlich nur Ungeduld des Herzens ist" und einer unsentimentalen, die nicht mit Gefühlen spielt. Eine folgenreiche Unterscheidung – zwischen einem selbstgefälligen Gutmenschentum und der entschlossenen Bereitschaft, sich selbst aufzuopfern.

Psychologie der Gefühle

Stefan Zweig ist ein Meister des psychologischen Realismus. "Ungeduld des Herzens" ist sein einziger, erst spät vollendeter Roman. Berühmt wurde der österreichische Schriftsteller anfangs durch Novellen; Lyrik, Dramen und historische Biografien, viele in über 50 Sprachen übersetzt.

Geboren wird Zweig 1881 als Sohn eines jüdischen Textilfabrikanten. Er wächst in wohlhabenden großbürgerlichen Verhältnissen in Wien auf. Dank seiner finanziellen Unabhängigkeit reist er viel und erweitert sein Weltbild durch rege Korrespondenz mit geistigen Größen seiner Zeit.

In den 1920er Jahren wird er zum Bestsellerautor. Ihm vergleichbar war damals nur der Schriftsteller Thomas Mann. In Nazi-Deutschland werden die Schriften von Stefan Zweig verboten – als Jude, Pazifist und als pro-europäischer Weltbürger, ist er den nationalsozialistischen Machthabern ein Dorn im Auge.

Tragisches Ende

"Ungeduld des Herzens" schrieb Zweig im Exil in London, wohin er 1934 nach massiven antisemitischen Anfeindungen fliehen musste. 1939 wurde sein Roman veröffentlicht und vor allem in England ein überwältigender Erfolg. Dort erschien er unter dem Titel "Beware of Pity" (Nimm dich in Acht vor Mitleid).

Filmstill Vor der Morgenröte
Der Schriftsteller Zweig mit seiner jungen Frau Lotte (Aenne Schwarz) in Kinofilm "Vor der Morgenröte"Bild: X Verleih

Bis heute ist Stefan Zweig international einer der meistgelesenen deutschsprachigen Autoren. Nahezu alle Werke des großen Humanisten handeln vom verfehlten Glück und enden in tragischer Resignation.

In Brasilien, wohin er 1940 aus Furcht, in England als feindlicher Ausländer interniert zu werden, weitergeflohen war, verschlimmerten sich seine Depressionen. Zusammen mit seiner 27 Jahre jüngeren Frau Lotte setzt er seinem und ihrem Leben im Februar 1942 ein Ende – mit einer Überdosis Veronal. "Aus freiem Willen und mit klaren Sinnen", notiert er in seinem Abschiedsbrief.

 

Stefan Zweig: "Ungeduld des Herzens" (1939), S. Fischer Verlag

Das literarische Schreiben wurde Stefan Zweig nicht in die Wiege gelegt. 1881 wurde er als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Wien geboren. Er übersetzte Werke bedeutender Schriftsteller wie Baudelaire und Romain Rolland und schrieb selbst Gedichte, Novellen, Erzählungen. Während des ersten Weltkrieges arbeitete Zweig "freiwillig auf Kriegsdauer", wie er später vermerkte, in einem Kriegsarchiv, musste also nicht an die Front. 1933 fielen seine Werke bei der "Bücherverbrennung" der Nazis den Flammen zum Opfer. Der Schriftsteller Stefan Zweig musste emigrieren, erst nach England, dann nach Brasilien. Im Februar 1942 nahm er sich das Leben. 2016 kam der Film "Vor der Morgenröte" (Regie: Maria Schrader) über die letzten Jahre seines Exils ins Kino.