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Steigende Infektionszahlen: Das rät die Wissenschaft

10. November 2021

Letztlich muss die Politik angesichts rasant steigender Infektionszahlen über geeignete Corona-Maßnahmen entscheiden. Forscher haben Vorschläge gemacht, was aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll ist.

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Deutschland | Coronavirus Inzidenz über 300
Sowohl die Inzidenz als auch die Zahl der Neuinfektionen steigt in Deutschland so stark wie noch nieBild: Rüdiger Wölk/imago images

Grundsätzlich ist das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik klar geregelt: Die Wissenschaft liefert Beobachtungen und Erklärungen und benennt zuweilen auch Handlungsoptionen, die sich aus wissenschaftlicher Sicht daraus ableiten.

Aber die Politik entscheidet, welche Option schlussendlich umgesetzt wird. Nur die Politik hat das demokratische Mandat; die Wissenschaft hat jenseits der beratenden Tätigkeit keine politische Funktion.

Wissenschaft verließ beratende Rolle

Mit der Corona-Pandemie aber rutschte die bis dato rein beratende Wissenschaft plötzlich in den politischen Entscheidungsprozess. Auf Grundlage der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden selbst extrem tiefgreifende Eingriffe in individuelle und gesamtgesellschaftliche Grundrechte durchgesetzt - Kontaktbeschränkungen, Einschränkung der Bewegungsfreiheit, Maskenpflicht, Lockdown. Und als es aus wissenschaftlicher Sicht wieder vertretbar erschien, wurden diese einschneidenden Maßnahmen wieder zurückgenommen. 

Bundespressekonferenz zum Thema: Die Corona-Lage im Lockdown
Mit der Corona-Pandemie rutschte die Wissenschaft plötzlich in den politischen Entscheidungsprozess.Bild: Janine Schmitz/photothek/imago images

Und jetzt? Einige besonders stark betroffene Bundesländer haben in den vergangenen Tagen ihre Corona-Regeln schon wieder verschärft. Angesichts rasant steigender Infektionszahlen wird wieder hitzig über geeignete Maßnahmen debattiert, die nach bald zwei Jahren Pandemie keiner mehr hören will. Die aber aus wissenschaftlicher Sicht durchaus Sinn machen.

Kurzfristig müsse man wieder Maßnahmen diskutieren, "die wir eigentlich hofften, hinter uns zu haben", so Christian Drosten, der Virologe der Berliner Charité, der durch die Pandemie plötzlich zum Helden und zur Hassfigur zugleich wurde.   

Konsequente Maskenpflicht

Mit dem Bund-Länder-Beschluss vom 25.11.2020 wurde eine grundsätzliche Verpflichtung zum Tragen einer Mund- und Nasenbedeckung in Arbeits- und Betriebsstätten eingeführt, vor allem wenn man dort Kontakt zu anderen Mitarbeitern oder Kunden hat. Es gibt allerdings einige Ausnahmen: Wenn ein Mindestabstand eingehalten wird, etwa in Einzelbüros, muss eine Maske nicht am eigenen Arbeitsplatz getragen werden.

Durchgestrichenes Bild zu Maskenpflicht in Deutschland, davor Frau mit Mundschutz
Aus wissenschaftlicher Sicht sollte die Maskenpflicht in engen Innenräumen beibehalten oder wieder ausgeweitet werden.Bild: SvenSimon/picture alliance

Aus Sicht von Epidemiologe Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen sollte die Maskenpflicht in engen Innenräumen beibehalten beziehungsweise wieder ausgeweitet werden.

In den Schulen zeichnet sich aktuell - je nach Bundesland - ab, dass die nach den Herbstferien gerade erst abgeschaffte Maskenpflicht wieder eingeführt wird. Der Präsenzunterricht soll aber auf jeden Fall aufrecht erhalten bleiben - dazu ist der gesamtgeschellschaftliche Druck zu groß.

Künftig 2G+, also Genesen oder Geimpft plus Test 

Viele Wissenschaftler halten die geltende 3G-Regel für unzureichend. Noch haben geimpfte, genesene oder getestete Personen mit einem Antigenschnelltest (max. 24 Stunden alt) oder PCR-Test (max. 48 Stunden alt) Zutritt zu Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, zur Innengastronomie, zu Veranstaltungen und Festen in Innenräumen, zu körpernahen Dienstleistungen, zu Sport im Innenbereich, zu Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen. 

Hinweis auf die 2G Regel an einem Wirtshaus-Schild
Maßnahmen wie 3G oder selbst 2G reichten vermutlich nicht aus, um die Zahl der Infektionen genug zu senkenBild: Sascha Steinach/ZB/picture alliance

Maßnahmen wie 3G oder selbst 2G reichten vermutlich nicht aus, um angesichts der Delta-Variante die Zahl der Infektionen genug zu senken, so der Berliner Virologe Christian Drosten in seinem NDR-Podcast "Das Coronavirus-Update".

"2G plus Test dürfte Standard werden über den Winter", erklärte der Epidemiologe Hajo Zeeb. Das würde bedeuten, dass nur Geimpfte und Genesene Zutritt zu bestimmten Orten haben und zusätzlich getestet sein müssen.

Denn auch Geimpfte und Genesene (2G) könnten sich infizieren. "Es ist dringend nötig, dass wir vom Entspannungsmodus in den Ernsthaftigkeitsmodus zurückkehren, leider auch alle Geimpften", so Zeeb.

Umstrittene 2G-Regel in Sachsen

Reine 2G-Regeln etwa beim Einlass in Restaurants sind auch aus Sicht von Jan Fuhrmann, Experte für mathematische Epidemiologie an der Universität Heidelberg, nicht die Lösung, solange sie nicht durch eine zusätzliche Testpflicht auch für Geimpfte und Genesene begleitet werden.

"Was 2G bewirkt, ist ein zusätzlicher Impfanreiz und die Verringerung des Risikos, dass jemand der Anwesenden einen schweren Verlauf erleidet, falls doch Infizierte anwesend sind und Ansteckungen stattfinden."

Mehr Impfungen und Booster

Einhellig betonen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die enorme Bedeutung der Impfungen bei der Pandemie-Bekämpfung. Dies gelte insbesondere auch für die sogenannter Booster- oder Auffrischungsimpfungen.

Die Impflücken müssten schnell geschlossen werden, so Drosten. "Wir haben 15 Millionen Leute, die sich hätten impfen lassen können, die aber nicht geimpft sind." Darunter seien viele mit hohem Risikoprofil, weil sie entweder grunderkrankt sind oder alt, so Drosten.

Mit einer Ausweitung der 2G-Regel zwinge man die Leute zu einer Entscheidung, ob sie weiter am gesellschaftlichen Leben teilhaben wollen oder eben nicht, weil sie sich nicht impfen lassen wollen. "Das ist eine Möglichkeit der Politik, wie sie Druck ausüben kann."

Die Impfgeschwindigkeit müsse dringend wieder deutlich angehoben werden, forderte auch Jan Fuhrmann, Experte für mathematische Epidemiologie an der Universität Heidelberg. "Ob es ohne Impfzentren geht, täglich ein Prozent der Bevölkerung zu impfen wie im Sommer 2021, da bin ich skeptisch."

Eine Frau erhält in Israel eine Coronavirus-Impfung
In Israel bekommen auch jüngere Beschäftigte in Kranken- und Pflegebereichen eine Booster-ImpfungBild: Tsafrir Abayov/AP Photo/picture alliance

Bei der aktuellen Impfgeschwindigkeit von 0,2 Prozent der Bevölkerung pro Tag dauere es aber Monate, um wie in Israel die Hälfte der Menschen mit Boostern zu erreichen. "Ein wirklich zügiges, niedrigschwelliges Impfen und Boostern würde hier - genauso wie in Israel - mit großer Sicherheit die aktuelle Welle brechen", erläutert Viola Priesemann vom Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation. 

Politiker und Politikerinnen müssten vor allem das Ziel ihrer Strategie klarer kommunizieren. Dann könne man die Maßnahmen darauf einstellen. "Ist das Ziel nicht definiert, dann verpuffen einige der Maßnahmen", sagte die Forscherin.

Auch vollständig Geimpften müsse deutlicher als bislang vermittelt werden, dass sie sich noch anstecken und die Infektion weitergeben können und dass in Einzelfällen auch ein schwerer Verlauf möglich ist, so Fuhrmann.

"Die Delta-Variante ist so ansteckend, dass auch eine nahezu vollständige Durchimpfung nicht zu einer Ausrottung der Krankheit führen würde, zumal die Wirksamkeit der Impfstoffe gegen die reine Infektion innerhalb weniger Monate nachlässt."

Der Schutz vor schwerer Erkrankung halte hingegen deutlich länger an, auch wenn er nicht perfekt sei. "Es wird immer einen kleinen Teil der Geimpften geben, die trotz Impfung schwer erkranken können", fasste Fuhrmann zusammen. "Bei vielen Millionen Geimpften macht eben auch dieser kleine Teil Zehn- oder gar Hunderttausende Menschen aus."

Die Impfkampagne muss aber auch global vorangebracht werden, gibt der Epidemiologe Hajo Zeeb zu bedenken: "Wenn wir nicht dauernd wieder auf neu eingetragene Corona-Infektionen reagieren wollen, dann bleibt die Unterstützung der globalen Impfkampagne unverzichtbar und muss genauso viel Schub haben wie die Pandemiebekämpfung hier."

Impfpflicht für besondere Berufsgruppen

Die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina fordert eine Impfpflicht für Pflegekräfte, Lehrpersonal und Berufsgruppen mit viel Kontakt zu anderen Menschen. Nach dem Willen der Leopoldina sollte es Arbeitgebern möglich sein, den Impfstatus ihrer Angestellten zu erfragen. Zusätzlich solle die 2G-Regel im öffentlichen Leben breiter angewendet werden.

Gerade mit Blick auf den Schutz besonders bedrohter Menschengruppen, führt aus Sicht von Zeeb kein Weg an einer Impfpflicht - samt Boosterpflicht - für Pflege- und medizinische Berufe vorbei.

Infografik - DeutschlandTrend November 2021 - DE  ***SPERRFRIST: 4.11. 21:00 UHR***

Eine Impfpflicht für Lehrkräfte ist nach Ansicht des Lehrerverbandes hingegen nicht nötig. 90 Prozent seien doppelt geimpft, eine Pflicht zur Immunisierung sei darum unverhältnismäßig.

Regelmäßiges Testen

Zum 11. Oktober hatte der Bund die kostenlosen Bürgertests für alle beendet, auch um einen weiteren Anreiz zu schaffen, sich impfen zu lassen. Trotzdem bleiben regelmäßige Tests gerade angesichts wieder steigender Infektionszahlen wichtig.

"Die Impfung wirkt gut gegen schwere Verläufe, aber eben deutlich weniger und mit Abstand vom Impftermin abnehmend gegen Infektionen". Hier brauche es nach Ansicht von Epidemiologe Zeeb weitere Untersuchungen. Regelmäßiges Testen besonders im beruflichen Umfeld und in Schulen müsse am besten wieder zur Pflicht werden, meint Zeeb.

Notfalls weitreichende Kontaktbeschränkungen

Wenn all diese Maßnahmen die neue Infektionswelle nicht brechen können, muss die Politik auch wieder über noch drastischere Beschränkungen nachdenken.

Auch wenn es politisch und auch juristisch kaum durchsetzbar ist, seien weitreichende Kontaktbeschränkungen aus Sicht von Christian Drosten geboten. "Wir müssen also jetzt die Infektionstätigkeit durch Kontaktmaßnahmen wahrscheinlich wieder kontrollieren - nicht wahrscheinlich, sondern sicher", sagte der Virologe.

Drosten sprach von einer "echten Notfallsituation" angesichts der Lage auf den Intensivstationen. Der Berliner Virologe geht sogar von etwa 100.000 weiteren Toten durch Corona in Deutschland aus. 

"Wir müssen jetzt sofort etwas machen." Drosten erwartet einen sehr anstrengenden Winter "mit neuen, sagen wir ruhig: Shutdown-Maßnahmen".

Was dies dann für Betriebe, Schulen, ja das gesamte öffentliche und private Leben bedeuten würde, entscheidet allerdings nicht die Wissenschaft, sondern die Politik. 

DW Mitarbeiterportrait | Alexander Freund
Alexander Freund Wissenschaftsredakteur mit Fokus auf Archäologie, Geschichte und Gesundheit@AlexxxFreund