1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

"Erst Demokratisierung, dann Erweiterung"

Aureliusz M. Pedziwol, Warschau15. Mai 2013

Der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten, Peer Steinbrück, spricht sich während seines Warschau-Besuchs im DW-Interview für effizientere europäische Institutionen aus und fordert mehr Rechte für das EU-Parlament.

https://p.dw.com/p/18XIE
Porträt des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück (Foto: Aureliusz M. Pędziwol)
Bild: Aureliusz M. Pędziwol

DW: In den Finanz- und Wirtschaftskrisen, die die Welt seit fünf Jahren plagen, wurde das Sparen zur Hauptantwort. Vergaß man dabei nicht das Wirtschaftswachstum - vor allem in Europa?

Peer Steinbrück: Dass diese Länder ihre Haushalte in Ordnung bringen müssen, ist unzweifelhaft. Da gibt es auch keinen Unterschied in der Einschätzung zwischen mir und vielen amtierenden Regierungen. Die Frage ist nur, ob die Größenordnung oder die Dosis so ist, dass diese Länder dabei immer weiter buchstäblich in einen Teufelskreis hineinkommen.

Was wir Griechenland und Portugal jährlich abverlangen, ist eine Einsparung von fünf Prozent ihrer jährlichen Wirtschaftsleistungen. Das sagt uns allen wenig. Aber wenn ich dem Publikum vermittle, dass fünf Prozent - auf Deutschland übertragen - bedeuten würde, 130 Milliarden Euro einzusparen, über alle vier öffentlichen Haushalte: Bund, Länder, Kommunen und Sozialversicherung, dann weiß man, was wir mit diesen Ländern machen. Wenn ein Politiker in Deutschland die Ankündigung treffen sollte, wir müssen jetzt 130 Milliarden Euro einsparen, dann wäre bei uns in Deutschland der Teufel los. Das passiert aber in diesen Ländern.

Deshalb komme ich zu dem Ergebnis, dass die Dosis eine andere sein muss und dass sie in einer Doppelstrategie kombiniert werden muss, die sich auch mit der Frage beschäftigt, wie diesen Ländern Rückenwind verschafft werden kann. Und dann reden wir über einen notwendigen ökonomischen Stimulus.

Ich rede nicht über Konjunkturpakete. Ich bin auch vorsichtig, den Begriff des Marshall-Plans zu nehmen, der immer schnell herumgeistert. Es geht darum, im kommunalen Bereich beweglich zu sein, über entsprechende Investitionen wieder den Motor in Gang zu bringen, sowie Mittelstandsaktivitäten zu fördern. Das sind jedenfalls die Erfahrungen, die ich auch in Griechenland im direkten Kontakt mit den Regionalpolitikern gemacht habe.

Am 1. Juli tritt Kroatien der EU bei. Freuen Sie sich darauf, oder befürchten Sie, dass die Union damit ein neues Wirtschaftsproblem bekommt? Und wie lange werden die übrigen Balkanstaaten, die noch nicht dabei sind, auf den EU-Beitritt warten müssen?

Jeder Staat, der Mitglied der Europäischen Union werden will, hat bestimmte Kriterien zu erfüllen und ein bestimmtes Verfahren zu durchschreiten. Das kann ich nicht vorwegnehmen. Bevor ich mich in einer flammenden Rede für die weitere Erweiterung Europas ausspreche, haben wir zuerst für eine Demokratisierung der Institution und für Verfahrensverbesserungen zu sorgen.

Peer Steinbrück bei seiner Rede an der Universität in Warschau (Foto: Aureliusz M. Pędziwol)
Peer Steinbrück bei seiner Rede an der Universität WarschauBild: Aureliusz M. Pędziwol

Ich habe denn Eindruck, dass die deutsche Bundesregierung eine offene Debatte in der nächsten Legislaturperiode anstoßen muss, wie wir zukünftig diese europäischen Institutionen arbeitsfähiger, effizienter und auch demokratischer machen. Ich halte gar nichts davon, etwas in Aussicht zu stellen, und dann plötzlich darüber zu debattieren: Wir sind da 29, 30, 31, 32 Mitgliedsstaaten…

Und Kroatien selbst? Ist es soweit?

Kroatien hat sich ja entschieden: Es wird am 1. Juli zum 28. Mitgliedsstaat. Ich bin da ganz der Meinung von Helmut Schmidt, der in mehreren Gesprächen gesagt hat: Wir haben diese Europäische Union ziemlich schnell von neun auf zwölf, auf 15, auf 25, auf 27, jetzt auf 28 Mitgliedsstaaten gebracht.

Jeder Verein, der eine solche Explosion seiner Mitgliederzahl hat, muss sich um sein Statut kümmern. Er muss sich eine andere Grundlage geben, um arbeitsfähig zu bleiben. Das ist uns teilweise gelungen mit dem Lissabon-Vertrag, nachdem wir davor hoch gestartet waren mit einem Verfassungsentwurf. Aber dieser sehr automatische Zug "Erweiterung! Erweiterung! Erweiterung!" ist nicht meine Haltung.

Was müsste also nach dem Lissabon-Vertrag noch geschehen, um über eine weitere Erweiterung reden zu können?

Das Europäische Parlament braucht mehr Rechte, es muss den Kommissionspräsidenten wählen und abwählen können. Eine klare Trennung der Zuständigkeiten bei der Europäischen Kommission ist nötig. Ist sie Exekutive oder Legislative? Die Zusammenführung: Warum haben wir drei Präsidenten: einen Kommissionspräsidenten, einen permanenten und einen turnusgemäßen Ratspräsidenten? Was ist mit dem Europäischen Rat? Wird er eine zweite Kammer?

In Polen hört man immer wieder, dass die EU-Achse Berlin-Paris nach Warschau erweitert werden soll. Was meinen Sie dazu?

Ich bin froh, wenn es diese Achse gibt: Paris-Berlin-Warschau. Sie bildet sich im Weimarer Dreieck ab, wo es sehr viele Felder gibt, wo gemeinsame Politik betrieben wird.

Der Volkswirt Peer Steinbrück war zwischen 2002 und 2005 Ministerpräsident des Bundeslands Nordrhein-Westfalen. Der Kanzlerkandidat der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) war von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister.

Das Gespräch führte Aureliusz M. Pędziwol.