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Streit um Schengen II

Bernd Riegert19. Oktober 2006

Grenzenloses Reisen innerhalb der EU ohne Passkontrollen ist einer der Vorteile der EU-Mitgliedschaft, den die 2004 beigetretenen EU-Mitglieder in Osteuropa auch gerne genießen wollen. Doch so einfach ist das nicht.

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Blick auf den Ortseingang von Schengen in Luxemburg
Der kleine luxemburgische Ort Schengen wurde durch das nach ihm benannte Abkommen ein BegriffBild: dpa

Bis Mitte 2007 sollten die Osteuropäer und die Schweiz dem so genannten Schengen-Raum beitreten, also jenen 15 Staaten, die untereinander keine Binnengrenzen beim Reisen mehr haben. Benannt ist das Projekt nach einem kleinen Grenzdorf in Luxemburg, in dem der Wegfall der Personenkontrollen vor 21 Jahren beschlossen wurde.

Doch jetzt gibt es massiven Ärger um Schengen, denn die EU-Kommission will den Beitritt der neuen EU-Mitglieder zum Schengen-Raum um ein Jahr verschieben - aus technischen Gründen. Das Computersystem, das gesuchte Kriminelle und Diebesgut im Schengen-Raum registriert, wird nicht rechtzeitig fertig. Das ist auch Thema bei der ersten Dresdner Sicherheitskonferenz zum Schengener Abkommen über Grenzsicherung und Erweiterung am 19. und 20.10.

Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel

"Wenn das Zieldatum für den Schengen-Beitritt nicht gehalten werden kann, führt das zu einem großen Verlust an Glaubwürdigkeit für die EU bei den Menschen in den jungen Mitgliedsstaaten", sagte der ungarische Ministerpräsident Ferencz Gyurcsany am 10. Oktober beim Gipfeltreffen der vier größten neuen EU-Mitglieder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei im ungarischen Visegrad. Der tschechische EU-Botschafter Jan Kohout hatte zuvor in Brüssel von "Täuschung" gesprochen und die technischen Gründe für die Verschiebung angezweifelt.

Franco Frattini, der zuständige EU-Kommissar für Inneres und Justiz, weist die Vorwürfe zurück. "Es gibt einen praktikablen Vorschlag der Kommission: SIS II geht im Juni 2008 in Betrieb, weniger als 12 Monate später als geplant." SIS II, das Schengen-Informations-System Zwei, ist ein komplexes Computernetzwerk, in dem die Daten von gesuchten Personen, gestohlenen Fahrzeugen und Seriennummern von gestohlenen Geldscheinen gespeichert werden sollen.

Schengen-Informations-System Eins ist überholt

Kontrolle eines PKWs durch einen Bundesgrenzschutzbeamten an der deutsch-französischen Grenze in Saarbrücken
Das Schengener Abkommen lässt zu, die vereinbarte Aufhebung der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen zeitweise wieder rückgängig zu machenBild: dpa

SIS II ersetzt praktisch die früher übliche Datenüberprüfung durch Passkontrollen an den Binnengrenzen der EU. Die Polizeibehörden der Mitgliedsstaaten können so Fahndungsdaten jederzeit und überall im Schengenraum abfragen.

Heute arbeitet das SIS I mit Sitz in Straßburg für die 15 alten Schengen-Staaten - 13 EU-Staaten plus Norwegen und Island. Doch dieser Computer ist den technischen Anforderungen nicht mehr gewachsen. Seit 2003 plant und installiert die EU-Kommission das neue Computersystem, das für 27 und mehr Mitgliedsstaaten ausgelegt ist.

Trotz erheblicher Verzögerungen und Lieferschwierigkeiten, hielt die Kommission bis zu diesem Sommer an ihrem ehrgeizigen Zeitplan fest. "Die EU-Kommission hat unterschätzt, welche technischen Probleme bei einer solch gigantischen Datenbank auftreten können," sagt Ewa Klamt, Europa-Abgeordnete der deutschen CDU. Den Europa-Parlamentariern sei der Beitritt der neuen Mitgliedsstaaten zum Schengensystem wichtig. "Wir möchten klar machen, dass es nicht am Parlament liegt, wenn es zu Verzögerungen kommt."

Neue Mitgliedstaaten wittern Verschwörung

Angeblich stellte sich im Sommer bei der Installation der Festplatten und Computer in Straßburg heraus, dass die Klimaanlage und die Tragfähigkeit der Fußböden in dem vorgesehenen Gebäude zu schwach sind. Der tschechische EU-Botschafter, Jan Kohout, regte sich in Brüssel auf, dass das ja wohl niemand verstehen könne. Er witterte eine Verschwörung der alten Staaten.

Der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble weist diese Vermutung zurück - auch Deutschland wolle einen Beitritt der Neuen zum Schengenraum so schnell wie möglich. Allerdings gäbe es nicht nur beim Zentralrechner in Straßburg Probleme, sondern auch bei den Computersystemen in den Mitgliedsstaaten und den Behörden, die Daten einspeisen und abgleichen sollen. "Sobald die Voraussetzungen geschaffen sind, wird der Schengen-Raum erweitert. Die neuen Mitgliedsstaaten müssen aber ihrerseits die Voraussetzungen für einen Beitritt zum Schengensystem erfüllen. Da kann es keine Abstriche geben, weil Europa sonst nicht mit mehr, sondern weniger Sicherheit verbunden wäre. Und das ist nicht im Sinne der europäischen Integration", so Schäuble.

Provisorische Lösung

In ihrer Not schlägt die EU-Kommission jetzt vor, das alte Computersystem Schengen I aufzurüsten und die neuen Mitgliedsstaaten provisorisch daran anzuschließen, bis SIS II fertig ist. Doch das sehen die Projektmanager in den neuen Mitgliedsstaaten skeptisch, ganz neue technische Probleme könnten sich auftun. Wegen Problemen mit den ausführenden Firmen schließt EU-Kommissar Franco Frattini auch nicht aus, den Auftrag für SIS II neu zu vergeben, was weitere Verzögerungen mit sich bringen könnte.

Parallel zur Technik wird auch noch an den juristischen Grundlagen für den freien Datenaustausch gefeilt. Parlament und Ministerrat verhandeln über Zugriffsrechte und Datenschutz. Das neue SIS II soll nämlich erheblich mehr Daten speichern als das alte System. Digitale Bilder und biometrische Daten wie Fingerabdrücke oder Gesichtsform sollen erfasst werden. Die Daten sollen besser miteinander verknüpft werden können, um gezielt nach Verdächtigen und Straftätern suchen zu können.

Gigantische Datensammlungen

Umstritten war auch, welche Behörden auf die Daten zugreifen können. Im Endausbau sollen die Einträge im Schengensystem allen Polizeistreifen in der EU auf mobilen Geräten zur Verfügung stehen. Bernhard Kirch, der Leiter des derzeitigen Schengen-Rechenzentrums, sagt dazu: "Das alles muss funktionieren, um die Sicherheit auch weiter zu gewährleisten." Den Deutschen werde das erst so richtig bewusst werden, wenn die Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien tatsächlich wegfallen.

Auch für die Kontrolle von Einwanderung ist SIS II vorgesehen, denn das System speichert abgelehnte Asylanträge ebenso wie Versuche illegal einzureisen. Parallel zu dieser gigantischen Datensammlung mit heute schon über 16 Millionen Einträgen baut die EU seit 2004 noch eine zentrale Visa-Datei (VIS) auf. In ihr werden alle von EU-Staaten erteilten Einreise-Visa weltweit erfasst. So sollen Doppelanträge und Visa-Missbrauch abgestellt werden. Die Daten sollen aber auch zur Terrorismus-Bekämpfung und zur Abwehr schwerer Straftaten genutzt werden.