1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen
Politik

Stressjob Politik - eine Nahaufnahme

20. Dezember 2019

Angela Merkels zitternde Hände, Schwächeanfälle im Plenarsaal - wie anstrengend ist Politik? Marcel Fürstenau wollte es genauer wissen und begleitete in der letzten Sitzungswoche vor Weihnachten eine Parlamentarierin.

https://p.dw.com/p/3V8jj
Deutschland Bundestag in Berlin | Martina Renner, Die Linke
Die Linken-Abgeordnete Martina Renner am Rednerpult des Deutschen BundestagesBild: picture-alliance/dpa/F. Sommer

Theoretisch kann es jede und jeden treffen. Auch Martina Renner von der Linken. Tatsächlich passierte es jüngst ihrer Fraktionskollegin Simone Barrientos und dem Christdemokraten Matthias Hauer. Beide erlitten Anfang November innerhalb weniger Stunden im Plenarsaal des Deutschen Bundestages einen Schwächeanfall. Zwei dramatische Notfälle innerhalb kürzester Zeit.

Da drängt sich die Frage geradezu auf, ob Politik krank macht. Angela Merkels Zitteranfälle sind ebenfalls noch in unguter Erinnerung. Der Bundestag zog inzwischen Konsequenzen und entzerrte die Tagesordnung. Seit kurzem gibt es keine Sitzungstage mehr, die erst in den frühen Morgenstunden enden.

Die Sitzung des Innenausschusses verlässt Martina Renner vorzeitig

Ein erster Schritt, um überlastete Abgeordnete zu schonen. Auch für Saaldiener, Stenografen und Chauffeure, die übermüdete Politiker jeden Tag nach Hause fahren. Die Innenpolitikerin Martina Renner nimmt die Fahrbereitschaft des Bundestages ebenfalls in Anspruch, wenn sie eilig unterwegs ist. Oder wenn es mal wieder sehr spät wird.

Vor allem donnerstags, dann tagt nämlich der Untersuchungsausschuss zum Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz. Zwölf Menschen ermordete der Islamist Anis Amri vor drei Jahren, am 19. Dezember 2016. Martina Renner will wissen, warum der als potentieller Attentäter eingeschätzte tunesische Asylbewerber plötzlich vom Radar der Sicherheitsbehörden verschwand.   

Deutschland Berlin | Zwischenbilanz Untersuchungsausschuss Breitscheidplatz
Martina Renner zieht in der Bundespressekonferenz ihre Zwischenbilanz zum Untersuchungsausschuss Bild: DW/M. Fürstenau

Dieser Frage widmet die Extremismus-Expertin einen Großteil ihrer Arbeitszeit. Bereits am Mittwoch um 12 Uhr zieht sie in einer Pressekonferenz eine kritische Zwischenbilanz. Der Bundesregierung wirft sie mangelnden Aufklärungswillen vor. Eigentlich müsste sie jetzt noch im Innenausschuss des Bundestages sein, der schon seit 10 Uhr tagt. Aber wegen ihrer Pressekonferenz verlässt sie die nichtöffentliche Sitzung mit 34 (!) Tagesordnungspunkten dieses Mal vorzeitig.

Auf dem Weg zum Pressetermin begleitet sie ein juristisch geschulter Referent, der ihr einen sogenannten Sprechzettel mit allen wichtigen Informationen in die Hand drückt. Als die Pressekonferenz nach einer Stunde vorbei ist, wartet vor dem Saal schon ein Fernsehteam des Mitteldeutschen Rundfunks. "Mein Heimatsender", sagt die Linken-Politikerin, die ihren Wahlkreis im Bundesland Thüringen hat.

Kurzes Vergnügen: die Weihnachtsfeier der Fraktion

Nach dem Interview geht es im Auto in ihr ein Kilometer entferntes Bundestagsbüro. Dort erwartet sie um 14 Uhr den nächsten Journalisten, der sich für ihre Arbeit in der Partei interessiert. Denn die Abgeordnete Martina Renner ist außerdem stellvertretende Vorsitzende der Linken.

In dieser Eigenschaft muss sie schon am Montag an einer Sitzung des geschäftsführenden Vorstands teilnehmen. Deshalb fehlt sie beim Treffen der Arbeitsgruppe Innenpolitik. Eine wichtige Runde, die Martina Renner ungerne versäumt. Aber wie so oft kommt etwas dazwischen.

Deutschland Berlin | Untersuchungsausschuss Attentat Breitscheidplatz | Martina Renner, Linkspartei
Dienstag ZDF, Mittwoch MDR, Donnerstag SWR - Martina Renner ist in dieser Woche eine gefragte Gesprächspartnerin Bild: DW/M. Fürstenau

Auf eine Veranstaltung in der letzten Sitzungswoche freut sie sich besonders: die Weihnachtsfeier ihrer Fraktion am Dienstagabend. Doch es wird nur ein kurzes Vergnügen, denn kurzfristig meldet sich das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) und möchte sie live zum Thema Rechtsextremismus befragen. Martina Renners absolutes Spezialgebiet.

Es geht um die Pläne des Bundesinnenministers Horst Seehofer zur Stärkung des Verfassungsschutzes und des Bundeskriminalamtes. Also setzt sie sich mit ihrem Team zusammen, um gemeinsam den Fernsehauftritt vorzubereiten. "Was sind die zentralen Punkte, die ich da rüberbringen will? Was müssen wir vielleicht nochmal recherchieren?" 

Twitter-Meldungen aus dem Untersuchungsausschuss

Allein könnte sie ihr gewaltiges Pensum nie und nimmer bewältigen. Um das große Ganze kümmert sich ihre Büroleiterin, die ständig den prall gefüllten Terminkalender aktualisiert. Ein anderer Mitarbeiter beackert vor allem das weite Feld Rechtsextremismus.

Außerdem beschäftigt die 52-Jährige zwei Leute in ihren Wahlkreis-Büros in Erfurt und Weimar sowie eine studentische Hilfskraft, die Martina Renners Homepage und ihr Facebook-Profil im Blick hat. Besonders aktiv ist die Kulturwissenschaftlerin beim Kurznachrichtendienst Twitter. Wenn sie donnerstags im Untersuchungsausschuss Zeugen mit ihren Fragen in Bedrängnis bringt, haben ihre vielen Tweeds mitunter den Charakter eines Live-Tickers.

Das erste Interview gibt sie morgens kurz nach 7 Uhr

"Donnerstag ist der härteste Tag", sagt Martina Renner. Diese Woche führt sie schon kurz nach 7 Uhr ein Telefon-Interview mit dem Südwestrundfunk (SWR). Anlass ist der Jahrestag des Weihnachtsmarkt-Attentats in Berlin. Um 8:30 Uhr trifft sie sich mit den Untersuchungsausschuss-Obleuten der anderen Fraktionen. Gemeinsam bespricht man den Ablauf der um 12 Uhr beginnenden öffentlichen Sitzung. Vorher berät sich das Gremium noch mit Vertretern der Bundesregierung.

Deutschland Berlin | Untersuchungsausschuss Attentat Breitscheidplatz | Martina Renner, Linkspartei
Letzte Absprachen vor dem Beginn der Zeugenbefragung im Untersuchungsausschuss zum Weihnachtsmarkt-AttentatBild: DW/M. Fürstenau

Meistens dauert die öffentliche Sitzung bis Mitternacht. Anschließend müssen noch vertrauliche Akten zurück ins Büro, wo sie in einem Tresor landen. Dieses Mal endet die Befragung des einzigen Zeugen - ein Beamter des Landeskriminalamtes Berlin - bereits am frühen Abend.

Denn um 19 Uhr beginnt in der Gedächtniskirche auf dem Breitscheidplatz, dem Ort des Terroranschlags, eine Gedenkveranstaltung mit Angehörigen der Opfer. Es ist Martina Renners emotionalster Termin in ihrer letzten Sitzungswoche 2019.

Es gibt mehr als das "Raumschiff" Regierungsviertel

Grundsätzlich hat sie mit der Arbeitsbelastung kein Problem. Abgeordnete hätten sich aktiv entschieden, "diesen Job zu machen". Und ja, man habe eine hohe Verantwortung, aber auch viele Möglichkeiten. "Es ist ein Privileg, hauptberuflich Politik zu machen", sagt die Linke.

Es sei aber auch wichtig, herauszugehen aus diesem "Raumschiff" - womit sie das Parlaments- und Regierungsviertel meint. Ihre Berliner Wohnung liegt außerhalb des Zentrums. "Ich wollte in einem Kiez leben, wo es eine normale soziale Infrastruktur gibt." Im Umkreis des Bundestages könne man nicht mal einen Supermarkt finden. 

Deutschland Berlin Gedenken Opfer Anschlag Breitscheidplatz
Gedenkveranstaltung für die Opfer des Weihnachtsmarkt-Attentats Bild: picture-alliance/dpa/J. Carstensen

Um nicht permanent an Politik denken zu müssen, ignoriert Martina Renner das, was sie "Häppchen-Termine" nennt: Einladungen aller möglichen Verbände und Organisationen, darunter viele Lobbyisten, die Abgeordnete beeinflussen wollen. Lieber nutzt sie die wenigen freien Abende oder das Wochenende, um ins Theater oder Konzerte zu gehen. Ein gutes Mittel gegen zu viel Stress. "Wer sich als Abgeordneter hier abends nicht heraustraut, der macht etwas verkehrt", meint sie.

"Du siehst gestresst aus, achte mal auf Dich!"

Der Gefahren ihres kräftezehrenden Jobs ist sie sich aber bewusst. "Auf bestimmte Sachen achten wir manchmal zu wenig" - das Essen zum Beispiel. "Dafür fehlt zwischen lauter Besprechungen, Sitzungen und Interviews oft die Zeit."

Um gut über den Tag zu kommen, trinkt sie regelmäßig Wasser oder auch mal einen Smoothie. Und wenn Martina Renner Gefahr läuft, sich zu übernehmen, kann sie sich auf ihr Mitarbeiterteam verlassen. Dann höre sie schon mal warnende Worte: "Du siehst gestresst aus, achte mal auf Dich!"

Deutsche Welle Marcel Fürstenau Kommentarbild ohne Mikrofon
Marcel Fürstenau Autor und Reporter für Politik & Zeitgeschichte - Schwerpunkt: Deutschland