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Wie geht die Generation Z mit dem Holocaust um?

25. Januar 2022

Das Thema Holocaust ist für junge Menschen weit weg und doch bewegt es sie im Alltag. Eine Studie zeigt: Die Gen Z will sich mit der NS-Zeit auseinandersetzen und verlangt einen offenen Diskurs ohne moralische Zwänge.

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Eine junge Frau hält am 2. August 2014 während der Gedenkfeier zum 70. Jahrestag des Völkermords an den Roma in Auschwitz II-Birkenau, dem ehemaligen NS-Konzentrationslager in Oswiecim, eine Blume.
"Ich kann nichts für damals, aber ich kann etwas für heute": So wird eine Befragte der aktuellen Arolsen Studie über die Haltung der Gen Z zur NS-Zeit zitiertBild: Getty Images/B.Siedlik

"Die NS-Zeit war so absurd und grausam, manchmal fällt es mir schwer, diese Vorfälle wirklich zu glauben." So wird eine Befragte der aktuellen Studie zum Umgang der heutigen Jugendlichen mit der NS-Zeit zitiert, die im Auftrag der Arolsen Archives entstand.

Die Arolsen Archives sind das weltweit umfassendste Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Sie bewahren Originaldokumente über KZ-Häftlinge, Deportationen, Zwangsarbeit sowie Aussagen der Überlebenden auf, vieles findet sich online auf ihrer Internetseite. Die Sammlung mit Hinweisen zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum UNESCO-Weltdokumentenerbe. Jetzt ist eine Studie zur Haltung der sogenannten Generation Z, also Jugendliche zwischen 16 und 25 Jahre, zum Thema Nationalsozialismus erschienen.

"Ich nehme in den Ergebnissen der Studie bei den Jugendlichen eine große Offenheit, Neugier und Freiheit im Denken wahr", erklärt Floriane Azoulay, Direktorin der Arolsen Archives. "Heute erlebt diese Generation, dass Demokratien in Gefahr geraten können. Ich finde es sehr gut nachvollziehbar, dass Erinnerung für sie mit dem Blick in ihre eigene Lebenswelt verbunden ist, in der populistische, autoritäre und intolerante Stimmen immer lauter zu hören sind."

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Die Studie hat in zwei Phasen mehr als 1100 Probanden befragt und mit den Aussagen der Generation ihrer Eltern verglichen. Herausgekommen ist ein überraschender Fakt: Die Gen Z scheint sich deutlich mehr für die NS-Zeit zu interessieren als die Generation ihrer Eltern (75 Prozent vs. 66 Prozent) und verbindet die Auseinandersetzung mit dem Thema auch mit aktuellen gesellschaftlichen Problemen wie Rassismus und Diskriminierung. Die Verantwortlichen der Studie sehen in dem verstärkten Interesse der Jugendlichen mehrere Gründe: Ein wichtiger Aspekt ist das Gefühl, nicht mitverantwortlich zu sein, keine persönliche Schuld an der NS-Zeit zu tragen. "Das verschafft den Jugendlichen einen unbeschwerteren Zugang zu dieser Zeit", sagt Stephan Grünewald, Psychologe und Gründer des rheingold Instituts, das mit der Durchführung der Studie beauftragt wurde.

Die NS-Zeit: Ein Gegenbild der eigenen Welt

Für die Generation Z stellt die NS-Zeit ein extremes Gegenbild zu ihrer eigenen Lebenswirklichkeit dar. Die heutige Jugend lebt in einer demokratischen Welt, in der sehr viele Wahlmöglichkeiten vorhanden sind. Sie sind in ihren Entscheidungen frei und die Entfaltungswege sind vielfältig. "Dieser multioptionalen Bereitstellungs-Kultur steht die entschiedene Dominanz-Kultur der NS-Zeit mit ihren ganz klar festgelegten Kategorien, Vorstellungen und Überzeugungen entgegen. Der Führerkult, die Pflicht zum unbedingten Gehorsam und zum völkischen Denken, dem sich das Individuelle und Diverse beugen musste, macht die NS-Zeit zum ebenso faszinierenden wie schrecklichen Gegenbild", heißt es in der Studie.

Die Kraft dieser Faszination habe jedoch eine Kehrseite, sagt Stephan Grünewald. Die Angst, von der Geradlinigkeit und Machtentfaltung der NS-Zeit berauscht zu werden oder sich von den Phantasien dieser Zeit verführen zu lassen, wird in der Studie deutlich. "Ich habe wirklich Angst, dass ich damals auch auf der Seite der Nazis gestanden hätte, nur um besser dazustehen", wird eine Befragte zitiert.

"Es gibt dadurch eine gewisse Scheu, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen, die daher kommt, dass man nicht weiß, auf welcher Seite man selbst gestanden hätte. Man blickt in den eigenen Abgrund."  Wäre ich Opfer, Täter, Mitläufer, oder gar Widerstandskämpfer - wie hätte ich damals reagiert, eine Frage, mit der sich die Gen Z offensichtlich intensiv beschäftigt.

Zugleich äußerten die Befragten ein großes Bedürfnis zu verstehen, wie eine Person so menschenverachtend reagieren kann, wie Täter tickten, wie die Banalität des Bösen entsteht. Könnte so etwas wieder passieren? Eine Frage, die die Jugendlichen von heute bewegt. "Ich will auch die Beweggründe der ganzen SS-Offiziere, KZ-Leiter oder der Menschen, die ihre jüdischen Nachbarn verraten haben, sehen. Wenn die Gründe transparent sind, würde ich bestimmt feststellen, dass auch mir sowas passieren kann", wird eine Befragte zitiert.

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Parallelen zum eigenen Leben

"Die Anfänge des Nationalsozialismus zeigen, wie sich Veränderungen einschleichen können und wie gefährlich Manipulationen sind", so eine andere Aussage.

Die Empfänglichkeit für rechte Ideologien, Fake News, die Spaltung der Gesellschaft, das Aufkommen von Verschwörungstheorien, all das sind aktuelle Themen, die die heutige Jugend in der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in Verbindung bringt.

"Geschichte mit heutigen Entwicklungen zu verknüpfen ist der Knackpunkt. Das zu kontextualisieren, ist die große Aufgabe, in die wir uns hineinbewegen müssen", sagt Oliver Figge vom Arolsen Archiv.

Barrieren bei der Auseinandersetzung

Die Erkenntnisse der Studie zeigen eindeutig: Wenn die schulische Vermittlung zu sehr auf Faktenwissen basiert, finden junge Menschen oft keinen Bezug zum Thema, das für sie sehr abstrakt, komplex und zu weit weg erscheint. Eine Auseinandersetzung mit Lebensschicksalen und -geschichten wie denen von Anne Frank oder Oskar Schindler auf Plattformen, die die Jugendlichen benutzen und die in ihrer gewohnten Sprache und Corporate Identity verfasst sind, bringt das Thema viel näher an ihre Wirklichkeit. So erwähnen die Macher der Studie als gelungenes Beispiel denInstagram-Account @ichbinsophiescholl, auf dem das Leben der von den Nazis ermordeten Widerstandskämpferin Sophie Scholl nacherzählt wird. "Sie beobachten, wie Sophie Scholl tanzt, Musik hört, sich mit Freunden trifft, und zugleich verstehen sie auch die Entwicklung der jungen Frau in dieser Zeit", sagt Stephan Grünewald.

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Offener Austausch ohne moralischen Zwang

Die Aufbereitung der Inhalte zu dem Thema ist also sehr wichtig, um den Jugendlichen diese Themen näher zu bringen. Hinzu kommt ebenso eine ganz klare Aufforderung seitens der teilnehmenden Jugendlichen, offener zu diskutieren. "Oft vermitteln festgelegte Meinungen und eine verordnete Moral den Eindruck eines abgeschlossenen Diskurses, der nicht mehr hinterfragt werden kann", heißt es in der Studie. "Beim Unterricht über die NS-Zeit hatte ich immer das Gefühl: Vorsicht! Da kommt keine Unterhaltung oder Diskussion auf. Da darf man keine eigene Meinung haben. Es gibt einen Konsens, wie man es zu finden und zu lernen hat!", wird ein Befragter zitiert. 

Die Studie zeigt klar: Die Jugendlichen sind sensibilisiert für das Thema NS-Zeit und Holocaust. Mehr noch: Sie ziehen Lehren aus der Vergangenheit und versuchen diese auf die aktuelle Wirklichkeit anzuwenden. "Die Auseinandersetzung mit der Zeit immunisiert", resümiert Stephan Grünewald.

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin