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Politik

Migranten überraschen mit Wahlverhalten

Carsten Grün
6. März 2018

Zum ersten Mal haben Wissenschaftler das Wahlverhalten von deutschen Staatsbürgern erforscht, die aus der Türkei und der ehemaligen Sowjetunion stammen. Erdogan ist bei den Deutschtürken eher unbeliebt.

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Türkischer Lebensmittelladen in Köln
Bild: DW/A. Mehdipor

Deutsche Welle: Sie waren federführend bei der "Immigrant German Election Study". Die Umfrage wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstützt. Mit welcher Gruppe haben wir es in der Studie hier konkret zu tun?

Achim Goerres: Wir haben es hier mit zwei Gruppen zu tun. Die einen sind deutsche Staatsbürger mit türkischen Wurzeln. Die andere Gruppe sind deutsche Staatsbürger mit einem sowjetischen Hintergrund. Sie stammen aus Ländern wie Russland, Ukraine und Kasachstan. Wir nennen sie in der Studie Russlanddeutsche.

Reicht diese Stichprobe von ihrer Größe her aus?

Wir haben aus beiden Gruppen jeweils 500 Personen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Die Interviews wurden persönlich bei den Leuten Zuhause durchgeführt. Das hat so schon hohe Kosten verursacht. Die Stichprobe ist aber repräsentativ.

Was hat sie bei den Ergebnissen am meisten überrascht?

Eine Reihe von Dingen war für uns schon überraschend. So ist die Wahlbeteiligung bei beiden untersuchten Gruppen deutlich niedriger. Zwar ist das bei Zuwanderern generell so, aber wir hätten nicht in dem Maße damit gerechnet. So sind nur 64 Prozent der Deutschtürken zur Wahl gegangen, bei den Russlanddeutschen waren es sogar nur 58 Prozent. Dann ist uns aufgefallen, dass die Dominanz der SPD bei den türkischstämmigen Wählern auf 35 Prozent zurückgegangen ist. Warum, wissen wir nicht ganz genau.

Deutschland Pro-Erdogan-Demonstration in Köln
Goerres: Wegen Pro-Erdogan-Demos denken viele, die Türken seien alle für ErdoganBild: picture-alliance/dpa/O. Berg

Worauf führen Sie das geringe Interesse zurück?

Da muss man differenzieren. Russlanddeutsche sind deutlich passiver. Bei den Deutschtürken gibt es eine hohe politische Beteiligung außerhalb von Wahlen - sogar höher, als bei den Deutschen selbst. So geht diese Gruppe häufiger auf Demonstrationen, kommentiert über Facebook oder nimmt Stellung zu Zeitungskommentaren. Dennoch kann man zur geringen Wahlbeteiligung immer nur Teilerklärungen anführen. So ist das geringere Bildungsniveau eine Möglichkeit. Oftmals sind politische Zusammenhänge nicht bekannt. So war das Wissen über die Spitzenkandidaten der kleinen Parteien deutlich geringer in beiden Gruppen als bei Deutschen. Und das ist natürlich eine wichtige Bedingung, wenn man politisch teilnehmen möchte, dass man diesen politischen Raum überhaupt kennt. 

Achim Goerres Universität Duisburg - Essen
Achim Goerres forscht an der Universität Duisburg-Essen Bild: Universität Duisburg - Essen

Sie haben die Leute aber nicht nur zum Wahlverhalten bei der Bundestagswahl befragt, sondern auch, wie die jeweiligen Präsidenten der Türkei und Russlands gesehen werden. Was kam dabei heraus?

Was interessant ist: Viele Deutschtürken sind stark gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan eingestellt. Wenn sie überhaupt am türkischen Referendum teilgenommen haben, sofern sie doppelte Staatsbürger sind, haben sie mit großer Mehrheit dagegen gestimmt. Nur 21 Prozent stimmten für die Reform. Zwei Drittel aller befragten Deutschtürken sind auch gegen eine Mitgliedschaft der Türkei in der EU. Unsere Vermutung ist, dass es stark mit der Bewertung der Regierung Erdogan zusammenhängt. Das hat uns sehr überrascht. Das spiegelt sich auch in der direkten Bewertung wieder. Erdogan wird in der türkischstämmigen Gruppe mit -2,5 bewertet. Bei den Kurden und Aleviten sogar mit -4. Die Russlanddeutschen bewerten dagegen Wladimir Putin besser. Bei den Russen kommt er auf 1,7, Ukrainer zum Beispiel sehen ihn aber nur bei -0,2.

Es wird ja immer wieder behauptet, dass Russlanddeutsche dazu neigen, die AfD zu wählen. Stimmt das?

Nach unseren Ergebnissen hat diese Gruppe mit 15 Prozent die AfD gewählt. Das ist etwas mehr als das Bundestagswahlergebnis. Die erste Partei der Russlanddeutschen bleibt die Union, vor den Linken, die sogar auf 21 Prozent kam. Dann erst kommt die AfD. Vor der Bundestagswahl gab es einen unheimlichen Hype um das Verhältnis der Russlanddeutschen zur AfD. Das war völlig überzogen. Das ist genau das Gleiche wie bei den Deutschtürken. Da sieht man ein Meer von türkischen Fahnen bei Erdogan-Demos und das hat den öffentlichen Diskurs dermaßen beeinflusst, dass viele denken, die Türken sind alle für Erdogan, nur weil da mal ein paar Tausend aus einer riesigen Community von Millionen zu Demos gehen. Das führt dann zu einer verzerrten Wahrnehmung.

Die Gruppe der Deutschtürken ist sehr heterogen. Welche Unterschiede gibt es da?

Man muss erst einmal wissen, dass Aleviten und Kurden in der deutschen türkischen Community häufiger vorkommen als in der Türkei. Der Hintergrund ist, dass in den 1980er Jahren viele vor der Militärdiktatur aus der Türkei geflohen sind und in Deutschland Asyl beantragt haben. Aleviten und Kurden sind - anders als in der Türkei - große Gruppen. Sie sind tendenziell etwas linker als andere ohnehin links eingestellte Gruppen der Deutschtürken.

Wie werden deutsche Politiker in den jeweiligen Gruppen bewertet?

Bundeskanzlerin Angela Merkel bekommt bei der russischen Gruppe einen Wert von 1,6 und bei der türkischstämmigen 1,1. SPD-Herausforderer Schulz landete bei den Russlanddeutschen bei 0,3 und bei den Deutschtürken bei 0,6. Der Grünen-Politiker Cem Özdemir hat in der türkischen Gemeinschaft wenig Rückhalt. Er kommt auf negative Werte, obwohl ihn alle kennen und die Grünen relativ beliebt sind. Er hat keinen ethnischen Bonus. Alexander Gauland von der AfD bekam durchweg schlechte Bewertungen: bei Russlanddeutschen -1,6 und bei Türken -3.