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Alexijewitsch: "Krieg ist Mord"

Margarita Kalz-Mihajlova 12. März 2016

Für die Freiheit müsse man kämpfen, da sie nicht vom Himmel falle. Aber mit den richtigen Mitteln: "Wir sollten miteinander verhandeln - nicht töten", so Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch im DW-Gespräch.

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Deutschland Bonn Swetlana Alexiewitsch zu Besuch bei DW
Bild: DW/M. Müller

DW: Frau Alexijewitsch, ist der Titel "Nobelpreisträgerin" auch eine Verpflichtung?

Swetlana Alexijewitsch: Das weiß ich noch nicht. Ich habe mich in diesen Zustand noch nicht eingelebt. Freie Zeit habe ich jedenfalls nicht. Das ist sehr traurig, denn ich bin eher eine Einzelgängerin, ein Schreibtisch-Mensch. Ich würde lieber leise vor mich hin schreiben und nachdenken.

Hat sich nach der Verleihung des Nobelpreises auch etwas in Ihrem persönlichen Leben geändert?

Man kann jetzt zu keinem mehr ein Wort sagen! Kaum hast du was gesagt, schon wird es veröffentlicht. Natürlich ist das etwas unkomfortabel.

Während Ihres Auftrittes im Rahmen des Literaturfestivals Lit.Cologne in Köln haben Sie bei der Beantwortung einer Frage den Satz gesagt: "Wir haben wieder den Kalten Krieg." Fühlen Sie das besonders intensiv als ein Mensch, der viel über Krieg geschrieben hat?

Nein, ich spüre das als ein Mensch, der dort lebt – innerhalb von all dem. Denn Weißrussland ist wie kein anderes Land mit Russland verbunden. Ich glaube, es ist der einzig verbliebene Raum, der noch unter direktem russischen Einfluss steht. Einige Entwicklungen hat Lukaschenko [Weißrusslands Präsident, Anm. d. Red.] aufhalten können. Er hat die Entfaltung eines wilden Kapitalismus verhindern können. Wir haben eine Mischung zwischen Kaiserherrschaft und Sozialismus.

Aber man merkt, dass dieser Hass, der sich in jenen Menschen anstaut, die beraubt und betrogen wurden, sich seinen Weg bahnt. Ich habe es schon vor zehn Jahren gemerkt, als ich das Buch "Secondhand-Zeit" schrieb und viel in Russland unterwegs war. Und ich fragte mich, wohin dieser Hass führen würde. Wenn ich zu Freunden nach Moskau kam und davon erzählte, sagten sie, die Demokratie sei heute bereits ein unumkehrbarer Prozess, ein Zurück sein unrealistisch. Nun stellt sich heraus, dass dies durchaus realistisch ist. Und diesen sich ansammelnden Hass hat man sehr gekonnt auf die Außenwelt umgeleitet. Es kam zu einer schnellen Militarisierung des Bewusstseins, und man richtete das gegen den "äußeren Feind".

Sie meinen also, die Wut über die innenpolitischen Probleme, in diesem Fall die von Russland, werde umgeleitet auf einen imaginären äußeren Feind?

Natürlich. Dies ist eine Form der Umleitung nach außen, jener Energie, die etwas im Inneren sprengen könnte. Putin hat da nichts Neues erfunden. So hat man es immer gemacht – und macht es nach wie vor.

Viele sprechen von Putin und seiner Autokratie, aber eine solche Autokratie entsteht ja nicht im Vakuum. Seine Popularitätsquoten sind zurzeit außerordentlich. Wie ist ein solches Phänomen in einer aufgeklärten Gesellschaft zu erklären?

Ich habe einen Artikel veröffentlicht mit den Titel "Der kollektive Putin". Darin schreibe ich, dass es nicht um Putin geht, er hat lediglich die bewussten oder unbewussten Wünsche der Gesellschaft akkumuliert. Einer Gesellschaft, die sich erniedrigt fühlte, die sich beraubt fühlte, betrogen fühlte. Da staute sich Energie an. Und wir, die die Perestroika [Umbau des gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Systems des Sowjetunion, Anm. d. Red.] machten, wir fragten uns auch: Wo sind die Petro-Dollar? Niemand ahnte, dass sie in die Armee flossen. Heute hat Russland eine ziemlich starke Armee, sie ist ganz anders, als sie zu Jelzins Zeiten war.

Wir fragten uns: Warum schweigt das Volk? Als ich anfing, viel zu reisen, in die tiefe russische Provinz, beispielsweise nach Sibirien, begriff ich, warum es schweigt: Es hatte nicht verstanden, was passiert war, es hatte das so nicht erwartet. Die Menschen wollten keinen Kapitalismus, der passte irgendwie nicht zur russischen Mentalität. Und als Putin dann all diese Worte aussprach: Rundherum sind Feinde, wir müssen stark sein, man sollte Achtung vor uns haben - da war die Welt auf einmal wieder in Ordnung. Solch ein Leben ist den Menschen vertraut. Da haben sie sich wieder zu einer großen Volkseinheit zusammengerauft.

In Ihrer Nobelpreisrede sprachen Sie von zwei Katastrophen: einer sozialen, die mit dem Untergang des sowjetischen Imperiums zusammenhängt, und der Tragödie von Tschernobyl, die sich in diesem Jahr zum 30. Mal jährt. Was bedeutet Tschernobyl heute für Sie?

Alle meine Freunde, die in den letzten zehn Jahren gestorben sind, starben an Krebs. Und es vergeht buchstäblich kein Tag, an dem ich nicht von irgendwelchen Bekannten höre, dass jemand krank geworden oder gestorben sei. Dies wurde von vielen Wissenschaftlern von Anfang an vorhergesagt, gleich in den ersten Monaten nach dem Unfall im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Die Wissenschaftler sagten damals, es werde zuerst eine Welle von schnellen Todesfällen geben, aber danach werde die Reaktion auf die geringen Strahlendosen beginnen, auf jene Strahlung, die wir trinken, essen, einatmen. Das passiert gerade jetzt - und zwar ziemlich aggressiv und überall. Das Schlimme dabei ist, dass die Gesellschaft zu selbständigen zivilgesellschaftlichen Initiativen nicht fähig ist. Die Machthaber wollen die Augen davor verschließen. Für sich selbst haben sie ja, soviel ich weiß, landwirtschaftliche Betriebe mit sauberen Lebensmitteln. Wir dagegen essen alle das, was in den Geschäften, auf den Märkten angeboten wird, wo nicht besonders aufmerksam kontrolliert wird. Deshalb kann man nicht sagen, dass wir in einer Zeit nach Tschernobyl leben. Wir leben mitten in der Tschernobyl-Zeit. Und die wird unendlich lange dauern.

Sie leben und schreiben in Weißrussland. Die Machthaber in diesem Land mögen Sie nicht. Man versucht, Sie zu ignorieren und hindert Sie daran, sich mit Schriftsteller-Kollegen zu treffen. Warum leben Sie noch dort?

Ich bin doch gerade erst zurückgekehrt - nach zwölf Jahren im Ausland. Seinerzeit haben wir mit Wassil Bykau [weißrussischer Schriftsteller, Anm. d. Red.] das Land verlassen. Lukaschenko war gerade an die Macht gekommen. Wir glaubten damals, dass wir nicht lange fernbleiben müssten, dass unsere Abreise eine Art Symbol werden würde. Nichts dergleichen! Ich verstand nach langer Abwesenheit, dass dies alles nicht bald enden wird. Ich bin aber eine Schriftstellerin, die zu Hause leben will und muss. Denn jene "Romane der Stimmen", die ich schreibe, setzen sich zusammen aus der Atmosphäre, aus dem Leben um mich herum, aus den Gesprächen mit den Leuten, oft zufälligen, im Vorbeigehen, auf der Straße, im Restaurant, im Taxi, auf den Märkten. Außerdem wächst dort meine Enkelin auf und ich habe den rein menschlichen Wunsch in ihrer Nähe zu sein.

Aber ich muss auch zugeben, dass ich etwa ein halbes Jahr vor jener Verwandlung zurückgekehrt bin, die sich bei Putin vollzogen hat, als er alle Masken fallen ließ und sein Programm für Russland offen und eindeutig präsentierte. Das war für Viele eine Niederlage, das war bestürzend. Erst danach haben wir verstanden, dass dies alles fast zwanzig Jahre vorbereitet wurde. Wir waren halt so naive Romantiker, die glaubten, die Demokratie würde einfach so nur deshalb kommen, weil wir auf den Straßen "Freiheit! Freiheit!" rufen.

Teilen die Menschen in Ihrer Familie Ihre Ansichten über Demokratie und das moderne Leben?

Das glaube ich nicht. Mein Vater ist bis zuletzt Kommunist geblieben, er konnte sich nicht vom Parteibuch trennen. Er war der Meinung, Stalin hätte die Idee verunglimpft. Meine Mutter dachte so ähnlich, obwohl es in beiden Familien Opfer der Repressalien gegeben hatte. Früher fragte ich meinen Vater über die Zeit, in der seine Freunde verhaftet wurden: "Wie konntest Du nur?". Heute würde ich ihm solch idiotische Fragen nicht mehr stellen. Wie können wir denn heute alle? Jeder findet in diesem trägen Lebensfluss einen Trick, eine Rechtfertigung, eine Möglichkeit, etwas von seiner Würde zu erhalten. Das liegt in der menschlichen Natur. Der Totalitarismus, der uns heute in so mannigfaltigen Formen begegnet, ist tief im Leben verwurzelt. Nehmen Sie die Menschen in Weißrussland: Sie sahen in der Ukraine den Maidan, das Blutvergießen, diese brennenden Reifen. Natürlich haben sie Angst bekommen. Alle wollen Freiheit. Aber alle wollen, dass diese Schönheit einfach so kommt, von irgendwo erscheint, vom Himmel fällt. Aber das passiert nicht.

Woran arbeiten Sie aktuell?

Ich bin heute zu erschöpft, um über den Krieg schreiben. Ich kann diesen menschlichen Wahnsinn nicht mehr sehen. Und ich kann nicht begreifen, woher ein Mensch sich das Recht nimmt, einen anderen Menschen zu töten. Denn sowohl ein gerechter als auch ein ungerechter Krieg sind letztendlich alle nur Mord. Ich glaube, im 21. Jahrhundert sollte man mit Hilfe von Ideen kämpfen. Wir sollten miteinander verhandeln - und nicht töten. Wir aber töten weiter. Das ist Barbarei.

Ich denke zur Zeit über zwei Bücher nach. Eines über die Liebe. Männer und Frauen erzählen über die Liebe, aber gleichzeitig wieder einmal über das, wer wir sind. Das andere über das Leben im Alter. Der technologische Fortschritt hat uns weitere 20 bis 30 Jahre geschenkt und niemand weiß, was wir damit anfangen sollen. Man kann doch nicht bloß als ein durch die Zeit stark gekennzeichnetes Biosystem weiter existieren. Man muss irgendwie anders leben, einen bestimmten Sinn finden. Er kann doch nicht nur darin bestehen, Kinder zu kriegen, wie uns eingeflößt wurde. Da muss doch noch ein spiritueller Sinn sein.

Das Gespräch führte Margarita Kalz-Mihajlova (Übersetzung: Andrey Gurkov).

Swetlana Alexijewitsch gehört zu Weißrusslands wichtigsten Autorinnen. In ihren Büchern schreibt sie unter anderem über den zerfallenen Sozialismus, den sowjetischen Krieg in Afghanistan oder die Tschernobyl-Katastrophe. 2013 wurde sie mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Zwei Jahre später folgte die höchste Auszeichnung für Schriftstellerinnen und Schriftsteller: der Literaturnobelpreis.