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PolitikNahost

Hunger in der einstigen Kornkammer

15. März 2021

Zehn Jahre Krieg: und die humanitäre Lage in Syrien ist schlimm wie nie. Besonders im von islamistischen Rebellen kontrollierten Nordwesten. Gehungert wird aber auch im Reich Assads.

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Eine syrische Frau und ihr Sohn tragen Kartons mit Lebensmitteln in Aleppo
Lebensmittel in Syrien kommen immer öfter von HilfsorganisationenBild: picture-alliance/dpa

Eine Katastrophe in der Katastrophe: Seit einem Jahrzehnt versinkt Syrien in einem Strudel von Gewalt und Konflikt. Seit Jahren schon fehlt es Millionen Menschen am Nötigsten. Jetzt kommt zum Krieg noch der Hunger: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat keinen regelmäßigen Zugang zu ausreichender Nahrung, mehr als 12 Millionen Menschen. Allein im letzten Jahr sind über vier Millionen Hungernde dazugekommen.

Diese Zahlen nannte der Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, Mark Lowcock, Ende Februar. Ziemlich genau 9.000 Kilometer entfernt vom syrischen Elend: Vor dem Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York. Der Brite hatte noch mehr düstere Fakten im Diplomatengepäck: Mehr als eine halbe Million Kinder leiden unter chronischer Mangelernährung. Von einem Telefonat mit einem Arzt in einem Kinderkrankenhaus berichtete Lowcock, die Hälfte der Betten sei belegt mit mangelernährten Kindern. Eltern würden weniger essen, um mehr übrig zu haben für ihre Kinder. Aus Not würden sie die Kinder zur Arbeit schicken anstatt zur Schule.

Die dramatisch verschlechterte Lage ist kurz erklärt: Zum Krieg kam noch eine massive Wirtschaftskrise. Das syrische Pfund hat binnen zwölf Monaten drei Viertel seines Wertes verloren. Die Preise für Nahrungsmittel haben sich mehr als verdreifacht.

Essenzielle Grundnahrungsmittel seien nur noch zu Preisen verfügbar, die die Leute "an den Rand des Existenzminimums" brächten, sagt Heiko Wimmen von der Crisis Group, einem Think Tank. Und ausgerechnet in einem Land, das einst als Kornkammer des Nahen Ostens galt, würden die Bäckereien immer weniger subventioniertes Brot ausgeben können. "Die Leute stehen stundenlang dafür an", sagt Wimmen in einem Telefonat aus Beirut im Nachbarland Libanon. Und ergänzt: "Es mangelt an Benzin, an Strom, an allem!"

Verzweifelte Lage in Idlib

Humanitäre Hilfe als Waffe

Hilfe kommt unter anderem von der Deutschen Welthungerhilfe. Die arbeitet derzeit allerdings nur im von islamistischen Rebellen kontrollierten Nordwesten Syriens. Gerne würde die Organisation auch im Rest Syriens helfen. "Wir wollten uns auch im Regime-Gebiet registrieren lassen", berichtet Konstantin Witschel, der Syrien-Koordinator der Welthungerhilfe im Gespräch mit der DW. Der Anlauf scheiterte. "Uns wurden vom Regime Bedingungen genannt, die für uns als unabhängige und neutrale humanitäre Organisation nicht hinzunehmen sind. Wir sollten die Hilfe im Nordwesten des Landes einstellen. Wir versorgen dort im Moment eine halbe Million Menschen mit Nahrungsmitteln, mit Hygiene-Paketen, mit Trinkwasser und so weiter und so fort. Die können wir natürlich nicht im Stich lassen." 

Witschels trauriges Fazit: "Humanitäre Hilfe wird in Syrien schon seit Jahren als Waffe eingesetzt. Teilweise um Günstlinge bei Laune zu halten. Aber auch um Gruppen zu bestrafen, die dem Regime etwas ferner sind".

Aus Aleppo etwa gibt es Berichte, das UN-Gelder nicht in die am meisten zerstörten Stadtviertel fließen - die wurden nämlich ehemals von der Opposition verwaltetet. Die Hilfe gehe stattdessen an Gebiete, deren Bewohner als regimetreu gelten.

Größte Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg

Dazu kommt: Fast jeder zweite Syrer ist auf der Flucht. Über fünf Millionen im Ausland, die meisten in den Nachbarstaaten. In Syrien selbst leben sechseinhalb Millionen interne Flüchtlinge. Laut einer am 8. März veröffentlichten Analyse der unabhängigen Hilfsorganisation Norwegian Refugee Council, NRC, sind über zwei Drittel von ihnen schon seit über fünf Jahren auf der Flucht.

Allein 2020 seien fast zwei Millionen Menschen erneut vertrieben worden, schreiben die NRC-Autoren. Und immer häufiger sind nicht neue Kämpfe die Ursache - es ist wirtschaftliche Not. "Je länger diese Krise ungelöst bleibt, desto mehr erwarten wir, dass die wirtschaftliche Not zum Hauptantriebsfaktor für weitere Vertreibungen wird", warnte NRC-Generalsekretär Jan Egeland.

Viele Gründe für den Kollaps

Für den Kollaps der Wirtschaft gibt es viele Gründe: Da sind vor allem zehn Jahre Krieg und die Zerstörung wichtiger Infrastruktur. Da sind Misswirtschaft und Korruption. Da ist der Zusammenbruch des Bankensystems und der Wirtschaft im benachbarten Libanon im vergangenen Jahr. Libanon war das wichtigste Fenster für die syrische Wirtschaft. Und der Ort, wo die Mittelklasse ihr Erspartes unterbrachte. Experten sprechen davon, dass ein Fünftel der Bankguthaben im Libanon Syrern gehörte. Geld, das nun fehlt.

Libanon Beirut Schutzmauer und Stacheldraht um Zentralbank
Libanons Zentralbank in Beirut ist verrammelt. Das Geld ist weg.Bild: picture-alliance/abaca/A.A. Rabbo

Und dann sind da die Sanktionen. Syrien steht schon lange auf Sanktionslisten der USA, seit zehn Jahren wird das Land auch von der EU mit Sanktionen belegt. Mitte Juni 2020 legte die US-Regierung unter Donald Trump noch einmal nach, mit den sogenannte Caesar-Sanktionen. Die haben ihren Namen vom Pseudonym eines syrischen Militärfotografen, der mehr als 50.000 Fotos ins Ausland schmuggelte, die Verbrechen des Assad Regimes dokumentieren.

Maximaler Druck 

Die Caesar-Sanktionen bedrohen auch Nicht-US-Bürger und -Einrichtungen mit Strafe, wenn sie mit Syrien Geschäfte machen. Schon im August stellte Dareen Khalifa, Syrien-Analystin der Crisis Group, fest: "Allein die Androhung des baldigen Inkrafttretens des Caesar-Gesetzes beschleunigte die Abwertung der syrischen Lira, löste eine Hyperinflation aus und verursachte damit eine Lebensmittel- und Medikamentenknappheit."

Unter anderen Vorzeichen sprechen auch hochrangige Vertreter der früheren US-Regierung von der Wirkung der Sanktionen. James Jeffrey, unter Donald Trump Sonderbeauftragter des Außenministeriums für Syrien, zog Anfang Dezember in einem Interview mit dem Online-Medium Al-Monitor Bilanz: "Wir haben den Isolations- und Sanktionsdruck auf Assad erhöht; wir haben an unserer Linie festgehalten, keine Wiederaufbauhilfe zu leisten - und das Land ist verzweifelt darauf angewiesen. Sie sehen, was mit dem syrischen Pfund passiert ist, Sie sehen, was mit der gesamten Wirtschaft passiert ist. Also, es war eine sehr effektive Strategie."

James Jeffrey, US-Sondergesandter für Syrien, im Interview mit DW Conflict Zone
James Jeffrey angesichts des syrischen Wirtschaftskollaps: "effektive Strategie"Bild: DW/F. Suyak

Strafen für Helfer?

Am 29. Dezember forderte die UN-Menschenrechtsexpertin Alena Douhan von den USA, die "einseitigen Sanktionen aufzuheben, die den Wiederaufbau (…) in Syrien behindern könnten". Die UN-Sonderberichterstatterin beklagte, der "weite Geltungsbereich des US-Sanktionsgesetzes (…) könnte jeden Ausländer betreffen, der beim Wiederaufbau des verwüsteten Landes hilft, und sogar Mitarbeiter ausländischer Unternehmen und humanitärer Organisationen, die beim Wiederaufbau Syriens helfen."

"Dass am Ende so ein Sanktionsregime die Wirtschaft insgesamt schädigt, ist schon klar", gesteht auch Heiko Wimmen von der Crisis Group zu. Und wirft die Frage auf: "Soll man diese Sanktionen einfach aufheben? Oder soll man vielleicht ganz konkrete Angebote machen für `Zugeständnisse´ des Regimes - die natürlich keine Zugeständnisse sind, sondern einfach, dass Syrien internationale humanitäre Standards einhält."

In den vergangenen zehn Jahren gelang es Assad zwar, seine Herrschaft zu verteidigen. Aber er herrscht nur noch über ein Staatsgerippe in Trümmern - das er nicht stabilisieren kann. Politisch bewegt sich derzeit nichts. Das wurde spätestens Anfang des Jahres deutlich. Der Sondergesandte der UN für Syrien, Geir Pedersen, gab frustriert über den Verlauf der von ihm moderierten Verhandlungen in Genf zu Protokoll, es sei sinnlos, so weiterzumachen.

UN-Sondergesandter für Syrien Geir Pedersen auf Pressekonferenz nach Syriengesprächen in Genf am 29. 1. 2021
Verwalter des Stillstands: Geir Pedersen, UN-Sonderbeauftragter für SyrienBild: Denis Balibouse/REUTERS

Den Preis für den fehlenden politischen Durchbruch bezahlten die Zivilisten im Land, beklagte dieser Tage der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer. Und mahnte: "Die Syrer können sich kein weiteres Jahr wie dieses leisten, geschweige denn weitere zehn".

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein