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Türkisches Parlament bewilligt Ausnahmezustand

21. Juli 2016

Jetzt ist es offiziell: Drei Monate lang darf Präsident Recep Tayyip Erdogan in der Türkei per Dekret regieren. Unterdessen hat das Staatsoberhaupt schon die nächsten umstrittenen Maßnahmen auf den Weg gebracht.

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Türkei Parlament in Ankara
Bild: picture-alliance/dpa/EPA/STR

Den am Vortag von Präsident Recep Tayyip Erdogan ausgerufenen Ausnahmezustand bewilligten 346 der 550 Abgeordneten. Wie Parlamentspräsident Ismail Kahraman mitteilte, stimmten auch Abgeordnete der Opposition für die Maßnahme. Die islamisch-konservative Regierungspartei AKP verfügt über 317 Sitze im Parlament.

Nachdem bereits 60.000 türkische Staatsbedienstete suspendiert oder verhaftet wurden, ist die Türkei noch immer weit entfernt von einer Rückkehr zur Normalität. So kündigte die türkische Regierung nach der Verhängung des Ausnahmezustands auch die Aussetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention an. Ankara habe den Generalsekretär des Europarats über die Aussetzung nach Artikel 15 der Konvention informiert, bestätigte ein Sprecher des Gremiums in Straßburg.

"Kein Ausnahmezustand für das Volk"

Vize-Ministerpräsident Numan Kurtulmus sagte der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge, die Türkei handele damit nicht anders als Frankreich. Auch Frankreich hat die Konvention nach den Anschlägen von Paris teilweise ausgesetzt, ebenso wie die Regierung in Kiew wegen der Gewalt in der Ostukraine. Kurtulmus erklärte: "Unser Ziel ist es, den Ausnahmezustand so kurz wie möglich zu halten." Er hoffe, dass er nach einem bis eineinhalb Monaten wieder aufgehoben werden könne - statt der verhängten drei Monate. "Hoffentlich hat sich die Türkei dann wieder normalisiert." Kurtulmus ergänzte: "Das ist kein Ausnahmezustand für das Volk, sondern ein Ausnahmezustand für den Staat." Der Staat solle befähigt werden, effektiver zu handeln.

Artikel 15 der Menschenrechtskonvention erlaubt den Unterzeichnerstaaten, von den Verpflichtungen "abzuweichen", wenn "das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht" wird und die Lage im Land dies "unbedingt erfordert". Ausgenommen davon ist das Folterverbot, das unter keinen Umständen ausgesetzt werden darf.

Die Macht des Präsidenten

Zuvor hatte Erdogan für drei Monate den Ausnahmezustand verhängt. In dieser Zeit haben Erlasse des türkischen Präsidenten Gesetzeskraft. Er kann die Behörden beispielsweise anweisen, Ausgangssperren zu verhängen, Versammlungen zu untersagen und Medienberichterstattung zu zensieren. Der Ausnahmezustand sei notwendig, um schnell "alle Elemente entfernen zu können", die in den Putschversuch verstrickt seien, hatte Erdogan erklärt. Er betonte, der versuchte Staatsstreich sei "vielleicht noch nicht vorbei".

Sein Kabinett stellte sich hinter die Entscheidung Erdogans. So verkündete der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu über den Kurznachrichtendienst Twitter: "Der Ausnahmezustand steht der Demokratie, dem Gesetz und der Freiheit keineswegs entgegen. Ganz im Gegenteil, es dient der Wahrung und Stärkung dieser Werte." Ministerpräsident Binali Yildirim erklärte, der Ausnahmezustand werde den Alltag der gewöhnlichen Menschen keinesfalls negativ beeinflussen. "Unsere Bürger sollen sich sicher sein, dass wir fest entschlossen sind, die Beseitigung dieser Verräter fortzusetzen und alles dafür zu tun, unsere Gesetzesordnung, Demokratie, wirtschaftliche Stabilität und öffentliche Ordnung zu schützen."

Die Opposition des Landes warnte hingegen vor einer Alleinherrschaft Erdogans. Die türkische Gesellschaft sei gezwungen gewesen, zwischen einem Putsch und einem undemokratischen Regime zu wählen, erklärte die pro-kurdische Partei HDP. "Diese Wahlmöglichkeit lehnen wir ab." Der Putschversuch sei zu einer Gelegenheit geworden, alle Gegner der Regierung auszuschalten und die demokratischen Rechte und Freiheiten weiter einzuschränken, hieß es. Auch die größte Oppositionspartei CHP verurteilte den Ausnahmezustand. "Das war Illoyalität, Undank und ein ziviler Putsch gegen das Parlament", sagte Fraktionschef Özgür Özel dem TV-Sender CNN Türk vor einer Sitzung des Parlaments. Beide Parteien hatten den Putschversuch zuvor verurteilt.

Anhänger des türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan in der Türkei (Foto:
Von seinen Feinden scharf kritisiert, von seinen Anhängern gefeiert: Präsident Recep Tayyip ErdoganBild: Reuters/B. Ratner

EU-Verhandlungen aussetzen?

Deutsche Oppositionspolitiker meldeten sich ebenfalls zu Wort, um die Ereignisse in der Türkei zu kommentieren. So forderte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir die EU auf, die seit 2005 laufenden Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen. Es sei "sinnlos", über einen türkischen Beitritt zu verhandeln, solange Erdogan Präsident bliebe, sagte Özdemir dem "Mannheimer Morgen". Die Linken-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Sahra Wagenknecht, forderte die Bundesregierung auf, sie müsse "jetzt endlich ihren Premiumpartner Erdogan aufgeben". Mit der Verhängung des Ausnahmezustands habe Erdogan "jegliche demokratische Maske fallen lassen".

Erdogan wies seinerseits jegliche Kritik aus Europa zurück. Europäische Länder hätten bereits bei weniger gravierenden Anlässen den Ausnahmezustand verhängt, sagte Erdogan mit Blick auf Frankreich. Wer zu diesen Ländern schweige, habe "definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren".

Der Staatspräsident rief die Türken derweil zu weiteren Demonstrationen gegen die Putschisten auf. Hierfür wählte er einen ungewöhnlichen Weg: Am Donnerstagmorgen ging eine Kurzmitteilung an sämtliche Handybesitzer des Landes. Diese enthielt die Worte: "Mein liebes Volk, gib nicht den heroischen Widerstand auf, den Du für Dein Land, Deine Heimat und Deine Fahne gezeigt hast. Die Besitzer der Plätze sind nicht die Panzer. Die Besitzer sind die Nation." Unterzeichnet hat der Präsident persönlich. Während des Putschversuchs von Teilen des Militärs am Freitagabend hatte Erdogan im Fernsehen dazu aufgerufen, sich den Putschisten entgegenzustellen. Seine Anhänger waren zu Tausenden dem Appell gefolgt und hatten damit wesentlich zum Scheitern des Aufstandes beigetragen. Seitdem demonstrieren jeden Abend tausende Menschen in Istanbul, Ankara und anderen türkischen Städten.

nin/SC (dpa, afp, rtr, kna)