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Taliban Afghanistan

Ratbil Shamel16. April 2012

Mit ihrer koordinierten Anschlagsserie haben die Taliban Stärke und Kompromisslosigkeit demonstriert. Die NATO gibt sich gelassen, aber afghanische Experten sehen schwere Zeiten auf Kabul zukommen.

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Feuer in einem von Taliban-Kämpfern besetzten ebäude in Kabul bei Ncht (Foto: AP)
Bild: AP

Mit koordinierten Anschlägen durch Selbstmordkommandos haben die Taliban von Sonntagmittag bis zum frühen Montagmorgen (15.-16.04.2012) Teile Kabuls und angrenzender Provinzen in Atem gehalten. Hauptziele waren Botschafts- und Parlamentsgebäude in Kabul, unter anderem auch die deutsche Botschaft, sowie Polizei- und NATO-Einrichtungen in den Provinzen Paktia, Logar und Nangarhar. Die Bekämpfung der Angreifer erfolgte hauptsächlich durch afghanische Sicherheitskräfte. Nach ersten Erkenntnissen soll das Haqqani-Netzwerk, das in Pakistan seine Basis hat, aber in den städtischen Zentren Afghanistans seit längerem präsent ist, an der Aktion maßgeblich beteiligt gewesen sein.

Bei den Anschlägen und anschließenden Kampfhandlungen wurden nach Angaben des afghanischen Innenministeriums 47 Menschen, davon 36 Extremisten, acht Angehörige der Sicherheitskräfte und drei Zivilisten getötet. Viele Bewohner Kabuls fühlten sich an die Bürgerkriegsjahre Anfang der 90er Jahre erinnert. "Meine Kinder weinten die ganze Nacht", erzählt ein Bewohner des umkämpften Diplomaten-Viertels, wo die Angreifer sich in einem unfertigen Gebäude verschanzt hatten. "Was die Taliban tun, ist weder menschlich noch islamisch", sagt er. Gott möge sie bestrafen. "Wir wünschen uns ein ruhiges Leben. Wir wünschen uns nur Frieden."

Frieden in weiter Ferne

Frieden mit den Taliban wird es wohl so schnell nicht geben. Der Sprecher der selbsternannten Gotteskrieger pries die Angriffe vom Sonntag als einen großen Sieg für die Taliban und den Beginn ihrer Frühjahrsoffensive. Der afghanische Politik-Experte Miagul Wasiq geht davon aus, dass die Taliban ebenso wie die NATO eine Doppelstrategie verfolgen: kämpfen und verhandeln. "Die Taliban haben wieder einmal ganz deutlich gemacht, dass sie Friedensgespräche zu den Bedingungen der afghanischen Regierung ablehnen. Sie wollen nicht die demokratische Verfassung des Landes akzeptieren und auch nicht ihre Zusammenarbeit mit anderen Terrornetzwerken beenden." Mit ihren jüngsten Angriffen versuchten die Extremisten, ihre Position bei künftigen Verhandlungen zu stärken, so Wasiq.

Die afghanische Regierung versucht, unterstützt von der internationalen Gemeinschaft, seit rund fünf Jahren, die Taliban zu Friedensverhandlungen zu bewegen, doch bislang ohne Erfolg. Der erste Leiter des sogenannten Friedenrates wurde im vergangenen Jahr von den Taliban ermordet. Erst einen Tag vor der koordinierten Anschlagserie vom Sonntag stellte Präsident Hamid Karsai den neuen Vorsitzenden des Friedensrates vor. Die Reaktion der Taliban folgte prompt und blutig.

Salahuddin Rabbani soll Friedensgespräche mit den Taliban führen. Sein Vater Burhanuddin, der die Funktion zuvor innehatte, wurde ermordet. (Foto: Reuters)
Salahuddin Rabbani soll Friedensgespräche mit den Taliban führenBild: Reuters

Überraschungscoup

Die Extremisten wollten mit den jüngsten Anschlägen ihre Macht und Organisationsstärke unter Beweis stellen, sagt der deutsche Afghanistan-Experte Conrad Schetter vom Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung. "Zumindest in den letzten Monaten sah es so aus, als ob die Taliban zu größeren, koordinierten Angriffen nicht mehr in der Lage seien oder so etwas nicht mehr vorhätten. Die Angriffe von gestern zeigen das genaue Gegenteil, nämlich, dass die Taliban in der Lage sind, große koordinierte Angriffe durchzuführen." Das habe selbst in Geheimdienstkreisen niemand mehr erwartet. Das wird auch durch eine Erklärung des Büros von Präsident Hamid Karsai bestätigt, wonach der Angriff eine "Niederlage" der Geheimdienste Afghanistans und der NATO sei.

Wie Conrad Schetter sehen auch afghanische Experten die Angriffe der Taliban als ein Zeichen ihrer Stärke. Eine Stärke, die gleichzeitig die Schwäche der afghanischen Sicherheitskräfte bedeute, sagt der afghanische Militärexperte Helaludin Hellal. "Einen ähnlichen Anschlag haben die Taliban im September letzten Jahres in Kabul verübt. Ihr erneuter Angriff zeigt, dass die afghanischen Sicherheitskräfte nicht aus den Erfahrungen der vergangenen Zeit gelernt haben." Damit ist vor allem die Fähigkeit der Terroristen gemeint, problemlos Stellung in der unmittelbaren Nähe von zentralen Einrichtungen der Regierung und der westlichen Verbündeten zu beziehen. Die "rasche und effektive" Reaktion der afghanischen Sicherheitskräfte, nachdem die Angriffe begonnen hatten, wurde allerdings von Seiten der ISAF und der USA hoch gelobt.  Hier gebe es klare Fortschritte, so US-Botschafter Ryan Crocker.

Zerstörungen und Einschusslöcher in einem Gebäude in Kabul (Foto:DW)
Die Taliban verbreiten weiter auf Schrecken und Chaos, bevor sie in Verhandlungen gehenBild: DW

Der afghanische Experte Hellal geht dennoch davon aus, dass die Taliban nun verstärkt ihre terroristischen Anschläge fortsetzen werden. "Mit jedem gelungenen spektakulären Anschlag der Taliban und ihren Verbündeten verliert die afghanische Regierung an Glaubwürdigkeit und Unterstützung bei der eigenen Bevölkerung", meint Hellal. Kabul müsse sich rasch auf diese neue Strategie der Taliban einstellen. Ende 2013 soll die afghanische Armee und Polizei die Sicherheitsverantwortung im Land übernehmen. Ohne einen massiven Ausbau der afghanischen Sicherheitskräfte, sagt Hellal, könne ein Vormarsch der Taliban kaum gestoppt werden.