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Politik

Ursachenforschung in internationalen Medien

24. Dezember 2016

Wie es zu dem Anschlag in Berlin kommen konnte, ist in den internationalen Zeitungen weiterhin ein großes Thema. Je nach Land fällt die Analyse unterschiedlich aus. Klar ist: Die Herausforderungen sind enorm.

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Spurensicherung nach Tötung von Anis Amri (Foto: picture-alliance/dpa/D. Bennati/B&V)
Bild: picture-alliance/dpa/D. Bennati/B&V

Die Reise des mutmaßlichen Terroristen Anis Amri endet in der Nähe von Mailand, genauer auf einem Stück Asphalt der Gemeinde Sesto San Giovani. "Sein Leichnam", schreibt die italienische Zeitung Corriere della Sera, "ist das Emblem eines verrückten und tragischen Weges, der vor fünf Jahren begann und der für viele Aspekte der neuen Bedrohung steht, der wir uns gegenüber sehen. Wenn er nicht sogar für alle Aspekte steht." Illegale Immigration, religiöse Radikalisierung und daraus entstehender Terrorismus: alles spiegele sich in dem Leichnam auf der Straße. Hinzu komme die Ohnmacht der – deutschen – Behörden, Männer wie Anis Amri zurück in ihr Heimatland zu schicken. "Und so konnte eine von den Sicherheitskräften als gefährlich eingestufte Person seine Kontakte zu anderen Militanten weiter pflegen, die ihn in der Mobilisierungsphase, die jeder Aktion vorausgeht, bestärkt haben dürften."

Anis Amri sei aber auch Symbol eines globalen Problems, schreibt die Zeitung La Repubblica. "Es besteht aus einem Terrorismus, der  unerwartet überall zuschlägt: in Frankreich, Belgien, Deutschland. In den USA, in Indien, Indonesien, auf den Philippinen. Die Motive der Terroristen sind abhängig von der jeweiligen Größe der islamischen Gemeinschaften, dem Niveau der Integration, und der Fähigkeit der Sicherheitskreise." Es gebe aber noch ein weiteres Phänomen, schreibt Repubblica: "die Banlieue" (die Vorstädte der großen Metropolen, Anm. d. Red.). Hier lebten die meisten der Entwurzelten – "also der Kampf einer zornigen Klasse, deren Mitgliedern der Terrorismus vielfach höchst attraktiv erscheint."

Ein Land, zwei Geschichten

Zugleich werfe die Biographie des Terroristen aber auch einen Blick auf die Verhältnisse in Tunesien. Das nordafrikanische Land könne zwei Geschichten erzählen, meint der britische Telegraph. Die eine sei die einer glücklich und erfolgreich, in demokratische Verhältnisse mündenden Revolution. "Die andere erzählt davon, wie über viele Jahre eine Generation junger Männer und Frauen marginalisiert und der Gefahr der Radikalisierung ausgesetzt wurde. Diese Geschichten erzählen viele Tunesier nur widerwillig."

Statt dessen verwiesen sie lieber auf die Verführungskraft des internationalen Dschihadismus. Damit aber würden sie ihrer Verantwortung nicht gerecht. Die Karriere Amris offenbare aber noch etwas, fährt der Telegraph fort: "nämlich die immer engere Verbindung zwischen Kriminalität und Radikalisierung, zweier Felder, die sich immer stärker überschneiden."

Italien Mailand Sicherheitskräfte vor Mailänder Dom mit Weihnachtsbaum
Wachsam: Sicherheitskräfte vor dem Mailänder DomBild: picture-aliance/AP Photo/L. Bruno

"Die Wut ist allgemein"

Das Problem, deutet die arabische, in London erscheinende Zeitung "Al Sharq al-Awsat" an, bestehe auch darin, dass die materiellen Verhältnisse in Deutschland viele Flüchtlinge zunächst einmal enttäuschten: "Die großen Hallen, in denen sie leben, sind kaum geeignet, ein vernünftiges Leben zu führen. Hunderte Personen schlafen in behelfsmäßigen Unterkünften, fensterlosen Räumen, die zwar sauber und gut geführt sind, deren Mauern die einzelnen Kojen aber nicht bis zur Decke voneinander abtrennen und darum noch das leiseste Geräusch hallen lassen."

Entsprechend leicht habe sich darum eine Geschichte angeboten, mit der sich der Terror erklären ließe: "Die Geschichte einer gefährlichen Reise über die Balkanroute nach Deutschland, das lange Warten auf die Entscheidungen einer überlasteten Bürokratie, eine freudlose Existenz an einem nicht mehr in Betrieb befindlichen Flughafen ohne Aussicht, Arbeit zu finden, dazu Kleinkriminalität, islamistische Propaganda im Internet, zum Schluss dann der Angriff."

Ein Angriff, der auch die Tunesier aufgewühlt habe, ist auf dem Portal G Net zu lesen. "Die Nachricht ruft eine Gänsehaut hervor. Der Schock ist kollektiv, die Wut allgemein. Der Name eines Tunesiers fügt sich der Liste jener hinzu, die international für Schrecken sorgen. Schutzlos und ohnmächtig, kann man sich nur für jene schämen, die uns vor der gesamten Welt so in den Dreck ziehen."

Drohende Polarisierung

Anderswo könnte die Tat andere Folgen hervorrufen, schreibt die arabische Zeitung Al Araby al-Jadeed. "Sie befeuert die Furcht der Europäer, dass ihre Länder vor dem Zugriff des Terrorismus nicht länger sicher sind, der sie nun immer stärker bedroht. Tatsächlich könnte die Serie von Angriff mit ihren Dutzenden von Toten das Gefühl der Sicherheit untergraben. Das wiederum stellt die Regierungen vor die schwierige Aufgabe, Frieden und Freiheit in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu bringen."

Infografik Anis Amri Aktualisierung nach Tötung in Mailand DEUTSCH

Und das wiederum berge eine weitere Gefahr: "Der erste Nutznießer dieser Ereignisse, die die Polarisierung innerhalb der europäischen Gesellschaften anstachelt, sind die rechtsextremen und nationalistischen Parteien sowie die gegen Muslime gerichteten Verleumdungskampagnen. Alles weist heute darauf hin, dass die rechtslastigen Parteien nach den kommenden Wahlen in den europäischen Parlamenten sitzen werden." 

Noch allerdings sei es nicht so weit, versichert Asharq al-Awsat, eine der größten arabisch sprachigen Tageszeitungen der Welt: "Der Vorfall wird die vitale, unsentimentale und weitgehend tolerante Atmosphäre in Berlin, dieser wilden und spitzbübischen Stadt nicht verändern. Berlin wird trauern, wie es das schon oft getan hat. Und dann wird es weitermachen."

22.000 potentielle Dschihadisten

Das sehe wohl auch Bundeskanzlerin Merkel so, vermutet die spanische Zeitung El País. Sie wisse, wie verführerisch die Auslassungen des Populismus klängen. "Aber sie weiß auch, dass sie das Problem nicht an der Wurzel packen. So stellt sie ihnen die Kraft moralischer Überzeugung entgegen, so unpopulär diese auch sein mag. Dadurch aber wird sie sich in die einzige politische Führerin verwandeln, die dieses Namens würdig ist."

Gleichwohl bleiben die europäischen Staaten  auf das höchste herausgefordert, schreibt die spanische Zeitung El Mundo. Das gelte vor allem für entsprechende Sicherheitsmaßnahmen. "Aber man darf nicht vergessen, das absolute Sicherheit unmöglich ist. Die rund 22.000 potentiellen Dschihadisten, die es nach Berechnungen der Sicherheitsdienste in Europa gibt, führen uns die Dimension der Gefahr vor Augen, der wir gegenüberstehen."

 

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika