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Politik

Tod hinter der Mülltonne

7. Juni 2020

Die tödlichen Schüsse israelischer Polizisten auf einen jungen Palästinenser provozieren Vergleiche mit dem Fall George Floyd in den USA. Hinzu kommt: Der Getötete hatte eine Behinderung. Aus Jerusalem Tania Krämer.

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Israel Haifa | Demonstrationen | Iyad el-Hallak
Trauer um den Sohn: Iyad Hallaks Mutter mit seinem Bild Bild: Getty Images/AFP/A. Gharabli

Fast jeden Morgen war Iyad Hallak zu Fuß unterwegs in die Ostjerusalemer Altstadt. Sein Weg führte durch die engen Gassen hoch bis zum Elwyn-Zentrum. In der Einrichtung für Menschen mit Behinderungen machte der junge Palästinenser eine Ausbildung zum Kochgehilfen. Der 32-Jährige war Autist und der tägliche Fußweg eine Herausforderung und ein Stück Unabhängigkeit zugleich. Doch in den letzten Maitagen fand all dies ein jähes Ende. Die Mitteilung der israelischen Polizei an jenem Samstagmorgen liest sich nüchtern: Ein Verdächtiger sei nahe des Löwentors in der Jerusalemer Altstadt "neutralisiert" worden - ein Ausdruck im israelischen Polizeijargon, der häufig den Tod der betreffenden Person beschreibt.

Grenzpolizisten hatten Iyad Hallak aufgefordert stehenzubleiben, so die Polizeimeldung. Sie nahmen die Verfolgung auf und schossen auf ihn. Er habe ein verdächtiges Objekt bei sich gehabt, möglicherweise eine Pistole, so die Mitteilung. Der junge Mann starb hinter Mülleimern, hinter denen er offenbar Schutz gesucht hatte, nur wenige Meter vom Zentrum entfernt. Die Polizei räumte später ein, dass sie keine Waffe bei ihm fand.

Im Elwyn-Zentrum herrscht auch Tage nach dem tödlichen Vorfall noch immer eine Art Schockzustand. "Es hat uns allen das Herz gebrochen", sagt Diaa Seider, Sozialarbeiter und einer seiner Betreuer. "Als Autist war es für Iyad extrem schwierig, mit fremden Menschen und neuen Situationen umzugehen. Einen autistischen jungen Mann wie ihn auf der Straße anzusprechen, ist schier unmöglich."

Auch Imad Muna, der an diesem Morgen seine 21-jährige Tochter ins Zentrum bringt, ist betroffen. "Es ist sehr einfach für diese Leute, jemanden zu töten, vor allem, wenn es sich um einen Palästinenser handelt," sagt Muna und spricht damit aus, was viele Palästinenser denken. In Ostjerusalem sei man leider an solche Ereignisse gewöhnt, aber das Erschießen eines behinderten und wehrlosen jungen Mannes mache viele Einwohner besonders betroffen.

Parallelen zu Polizeigewalt in den USA

Seit dem tödlichen Vorfall gärt es in den sozialen Netzwerken. Palästinensische sowie einige israelische Aktivisten ziehen Vergleiche zu der exzessiven rassistischen Polizeigewalt in den USA und den Protesten, die der Tod des Afroamerikaners George Floyd ausgelöst hat. So gab es beispielsweise in Bethlehem im Westjordanland, in Jerusalem, Jaffa und Haifa Demonstrationen, die Gerechtigkeit für Hallak forderten. Einige Teilnehmer hielten dabei Fotos von Hallak und Floyd hoch und Banner mit dem Schriftzug "Palestinian Lives Matter" - "Palästinensische Leben zählen". In Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten kritisieren Menschenrechtsgruppen schon lange die teils überproportionale Gewalt israelischer Einsatzkräfte gegen Palästinenser und die mangelnde Strafverfolgung gegen Angehörige von Armee und Polizei.

Im Fall Iyad Hallak habe das Justizministerium nun die internen Ermittlungen übernommen, sagt ein Polizeisprecher. Die Polizisten seien gegenwärtig vom Dienst suspendiert.

Israel Haifa | Demonstrationen | Iyad el-Hallak
"Schwarze Leben zählen" - "Palästinensische Leben zählen": Demonstration nach dem Tod Iyad Hallaks in Haifa am 2. JuniBild: picture-alliance/dpa/M. Milstein

Der Tod Hallaks zog ungewöhnlich viele Kommentare israelischer Politiker und offizielle Entschuldigungen nach sich. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu aprach von einer Tragödie. "Wir bedauern den Vorfall", sagte Verteidigungsminister Benny Gantz bei einer Kabinettssitzung und sprach der Familie sein Beileid aus. Israels Minister für Innere Sicherheit, Amir Ohana vom konservativen Likud, versprach umfassende Ermittlungen und neue Richtlinien im Umgang mit "Verdächtigen mit Behinderungen". Gleichzeitig stellte er klar, dass Polizisten im Einsatz oft "sekundenschnelle Entscheidungen über Leben und Tod" treffen müssten, bei Gefahr für ihr eigenes Leben. In den vergangenen Jahren haben palästinensische Einzeltäterimmer wieder Passanten und israelische Sicherheitskräfte in Jerusalem angegriffen und oft getötet.

Kein Vertrauen in staatlichen Schutz

Vater Khairi Hallak kann den Tod seines Sohnes noch immer kaum fassen. Die Familie hat die ganze Woche Kondolenzbesuche im Trauerzelt empfangen. "Er ist gerne in das Zentrum gegangen," sagt der Vater und erzählt, wie wichtig es war, dass Iyad den Weg zur Arbeit selbstständig schaffen konnte. Rund um das Löwentor sind besonders viele israelische Einsatzkräfte präsent, es ist einer der Wege zum Tempelberg und zur Al-Aksa-Moschee. Am Anfang sei noch eine Betreuerin mitgelaufen, die Iyad mögliche Checkpoints und die Polizeipräsenz erklärt habe. "Er war zwar ein junger Mann von 32 Jahren, in seinem Wesen aber ist er ein Kind von acht Jahren geblieben. Es ist schwer zu begreifen, dass er völlig grundlos von der Polizei getötet wurde."

Im Elwyn-Zentrum arbeiten jetzt Betreuer, Auszubildende und Eltern an der Frage, wie sie solche Vorfälle in Zukunft verhindern können. Auf den Schutz durch die Polizei zählen sie nicht. "In jüngster Zeit habe ich meine Tochter oft ein Stück alleine gehen lassen und sie von weitem beobachtet, bis sie sicher an der Tür war, damit sie etwas Unabhängigkeit erlebt", sagt Imad Muna. "Aber jetzt werde ich sie wohl besser wieder jeden Tag bis zum Zentrum begleiten."

Porträt einer Frau mit dunklen Haaren
Tania Krämer DW-Korrespondentin, Autorin, Reporterin