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Politik

"Es wäre ein Inferno geworden"

11. Oktober 2016

Der Verdächtige Dschaber al-Bakr war der Polizei zuerst entkommen. Syrische Landsleute übergaben ihn schließlich den Behörden. Der Terrorismusexperte Rolf Tophoven sieht dennoch kein umfassendes Polizeiversagen.

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Deutschland Polizeieinsatz in Chemnitz
Bild: picture-alliance/dpa/H. Schmidt

DW: Herr Tophoven, was ist bei dem Einsatz schiefgelaufen, als der mutmaßliche Terrorist Dschaber al-Bakr trotz des polizeilichen Großaufgebots zunächst entwischte?

Rolf Tophoven: Es sieht zunächst wie eine Polizeipanne aus. Aber es ist immer schwierig, von außen eine solche Lage einzuschätzen. Wenn man aufgrund der Menge des brisanten Sprengstoffs den Zugriff nicht im Haus durchführen, sondern abwarten wollte, bis die gesuchte Person das Gebäude verlässt, dann war es sicher richtig, den Zugriff draußen durchzuführen. Wenn dann allerdings ein Warnschuss abgegeben wird und der Täter nicht reagiert, sondern die Flucht ergreift, muss man sich fragen, ob nicht von verdeckten Kräften aus dem Hinterhalt ein Zugriff hätte erfolgen können.

Die Polizei sagt, eine direkte Verfolgung sei wegen der schweren Schutzausrüstung - bis zu 30 Kilogramm - des Spezialeinsatzkommandos nicht möglich gewesen. Das muss man hinnehmen. Auch Forderungen, den Mann anzuschießen oder zu erschießen, lassen sich schwer im Nachhinein bewerten. Die Beamten sind sicher sehr zögerlich, das zu tun, zumal ja laut Landeskriminalamt bei einem gezielten Schuss Unbeteiligte verletzt worden wären.

Aber klingt es nicht beinahe absurd, dass eine schwere Ausrüstung die Beamten angeblich daran gehindert hat, den Mann zu verfolgen?

Das mag von außen wie ein schlechter Film aussehen. Aber man muss auch die Frage stellen, ob man wirklich sicher war, dass es der gesuchte Dschaber al-Bakr war, der die Wohnung verließ. Ich würde mich aber nicht damit aufhalten, sondern feststellen: Den deutschen Sicherheitsbehörden, vom Verfassungsschutz über den Bundesnachrichtendienst und das Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum in Berlin bis hin zu den Beamten vor Ort in Sachsen, ist die Verhinderung eines geplanten schweren terroristischen Anschlags gelungen. Das verdient durchaus Respekt. Die Festnahme des gesuchten Dschaber al-Bakr durch syrische Landsleute mutet aber in der Tat skurril an.

Rolf Tophoven Terrorismus-Experte
Tophoven: "Von außen wie ein schlechter Film"Bild: picture-alliance/dpa

Und dieser Teil war ja der entscheidende!

Mir kommt das so vor wie zu Zeiten der Rote-Armee-Fraktion. Da wurden oft gesuchte Terroristen durch die Aufmerksamkeit von Bürgern festgenommen, die die Terroristen an den beschriebenen Verhaltensweisen und aufgrund der Fahndungsplakate erkannten. Man sprach damals davon, da habe Kommissar Zufall der Polizei geholfen. Hier in Sachsen hat ein syrischer Kommissar Zufall geholfen, den syrischen Tatverdächtigen festzunehmen. Denn die Männer, die ihn am Ende geschnappt haben, sind ja erst durch die Plakatierung und durch das Posten des Konterfeis des Täters in den sozialen Medien aufmerksam geworden und da hat man erkannt: Der Mann könnte bei uns in der Wohnung sein. Auf der anderen Seite wäre der berühmte Kommissar Zufall wahrscheinlich nicht in Aktion getreten, hätte man nicht vorher schon den Bürgern durch die Fahndungsaufrufe eine Vorlage gegeben.

Kann es sein, dass die deutschen Sicherheitskräfte einfach nicht die Erfahrung ihrer Kollegen beispielsweise in Frankreich auf diesem Gebiet haben?

Das würde ich so nicht sehen. Was Deutschland in der Bekämpfung des globalisierten islamistischen Terrorismus unserer Tage auszeichnet, sind gute Kenntnisse der Szene im allgemeinen, der Ideologie der Szene und auch des Vorgehens der Kommandos, ob nun Einzeltäter, Zelle oder ferngelenkte Täter des "Islamischen Staates". Außerdem: Was in Deutschland bisher an Anschlägen verhindert wurde, kann sich durchaus sehen lassen, auch wenn die Dimensionen völlig anders sind als die Anschläge in Paris oder Brüssel. Wir haben hier in Deutschland eine andere militant-islamistische Szene, nicht nur im Vorgehen, sondern sie haben auch andere Beziehungen in bestimmte Gebiete des Nahen und Mittleren Ostens. Und wir haben in Frankreich eine extreme Ballung von No-go-Areas im Vergleich zu Deutschland.

"Nach wie vor im Fadenkreuz"

Die Täter in Deutschland waren entweder Einzeltäter, ferngesteuert, wie in Ansbach, oder sich selbst radikalisierend, wie in Würzburg. Inwieweit der Fall von Chemnitz in dieses Schema passt, müssen die weiteren Ermittlungen zeigen: ob hier eine Zelle aufgebaut wurde oder ob al-Bakr als Einzeltäter operierte, möglicherweise in Kontakt mit IS-Zentren oder -Kommandeuren, wie man ja wohl annehmen muss.

Das heißt, wir können gute Polizeiarbeit im Entdecken und im Verhindern islamistischer Anschläge vorweisen. Wir sind aber nach wie vor im Fadenkreuz. Es kann hier jederzeit ein großer Anschlag passieren. Ich fürchte auch, dass wir hier noch Zellen haben, die auch die Fahnder noch nicht auf dem Schirm haben, wo sich etwas zusammenbrauen könnte.

Was den Austausch von Informationen der einzelnen Länder und Bundesorgane im Kontext unserer Sicherheit betrifft, läuft das hier in Deutschland ganz gut. Was zu beklagen ist, ist mancher international-europäischer Datenaustausch. Da greift manches eben nicht.

Die Polizei hat anderthalb Kilo eines hochexplosiven Sprengstoffs gefunden, den man sich offenbar ziemlich leicht beschaffen kann. Was kann man damit anrichten?

Wir müssen davon ausgehen, dass al-Bakr gute Kenntnisse hatte, wie man die Komponenten zusammenkauft, um eine Bombe, möglicherweise auch einen Sprenggürtel zu konstruieren. Die sächsische Polizei hat ja eine kontrollierte Sprengung des Materials vorgenommen. Augenzeugen haben den Knall, die Wucht und den Druck beschrieben. Danach wäre es sicherlich ein riesiges Inferno geworden, je nach dem, wo man die Bombe gezündet hätte, mit Dutzenden Toten.

Der Journalist Rolf Tophoven hat sich als Terrorismusexperte einen Namen gemacht.

Das Gespräch führte Christoph Hasselbach.