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Totgesagte leben länger

21. Oktober 2010

Strategisch denken und sich nicht von der amerikanischen Quartalshektik anstecken lassen - das ist das Erfolgsgeheimnis der deutschen Wirtschaft, meint Rolf Wenkel in seinem Kommentar.

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Bild: DW

Wer vor einem Jahr vorausgesagt hätte, dass die deutsche Wirtschaft mit mehr als drei Prozent Wachstum aus der Krise kommen und damit fast doppelt so stark wachsen würde wie der Durchschnitt der 27 Länder der Europäischen Union, der wäre wohl ausgelacht worden. Jetzt aber ist vom XL-Aufschwung die Rede, vom Wirtschaftswunder, von der Lokomotive für Europa, vom german sucess.

Vor rund anderthalb Jahren sah das noch ganz anders aus. Das deutsche Geschäftsmodell beruht bekanntlich auf der starken Exportorientierung. Und die wurde dem Land, das die Welt mit Autos, Maschinen, Investitionsgütern und chemischen Erzeugnissen beliefert, in der Wirtschaftskrise fast zum Verhängnis. Unter dem Einbruch der weltweiten Nachfrage hatte die exportorientierte deutsche Wirtschaft besonders zu leiden - die Wirtschaftsleistung brach um fast fünf Prozent ein.

Einseitiges Geschäftsmodell?

Rolf Wenkel (Foto: DW)
Rolf Wenkel, WirtschaftsredaktionBild: DW

Diese einseitige Exportorientierung rief damals aber nicht nur heimische Kritiker auf den Plan. Denn im Zuge der Euro-Krise geriet nicht nur Griechenland an den Pranger. Zur latenten Kritik, Deutschland sei zu bürokratisch, verkrustet und unflexibel, kam eine neue Nuance: Die einseitige deutsche Exportorientierung sei mit ein Grund für die Ungleichgewichte in Europa und im Welthandel. Vor allem aus Frankreich und den USA kamen immer wieder Vorschläge, dieses einseitige Geschäftsmodell zu überdenken.

Nun aber ist keine Rede mehr davon. Woran liegt das? Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter. Es ist vermutlich ein Mix aus klugen politischen Maßnahmen und langfristigem, strategischem Denken der Unternehmer zu verdanken, dass Deutschland wieder in der Spur ist. Zu den politischen Maßnahmen zählt neben den Konjunkturprogrammen, die freilich in der ganzen Welt aufgelegt wurden, die Kurzarbeit. Dieses deutsche Wort habe sich bereits im angelsächsischen Sprachraum eingebürgert, behauptet Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen.

Erfolgsrezept Kurzarbeit

Das Instrument gilt als Erfolgsrezept des deutschen Jobwunders. Die Strategie der Regierung, Unternehmen mit milliardenschweren Subventionen an der Entlassung eingearbeiteter Fachkräfte zu hindern, hat sich als sinnvoll erwiesen. Neue Aufträge können nun ohne Verzug abgearbeitet werden. Im Juli lag die Zahl der Kurzarbeiter nur noch bei 288 000. Ein Jahr zuvor gab es noch über eine Million Arbeitnehmer, die wegen Auftragsmangel in einer Zwangspause waren.

Dieses Instrument der Regierung wäre jedoch kaum so flächendeckend angenommen worden, wenn die Unternehmer hierzulande in eine angelsächsische Quartalshektik verfallen wären. Deutsche Unternehmer denken offenbar langfristiger und strategischer. Sie wissen, dass dem Land jenseits aller Konjunkturzyklen auf lange Sicht ein eklatanter Fachkräftemangel droht. Sie wissen: Wenn ich meinen guten Leuten nicht über eine Durststrecke helfe, sehe ich sie nie wieder, wenn ich sie brauche.

Neue Jobs in Sicht

Und wie sie gebraucht werden. Volle Auftragsbücher bei vielen Unternehmen, beispielsweise im deutschen Maschinenbau mit einem 45-prozentigen Auftragsplus im August, führten im Spätsommer zu einer Einstellungswelle. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag rechnet laut einer Umfrage unter 28.000 Firmen für das nächste Jahr mit rund 300.000 neuen Jobs. In den Branchen Pflege, Pharma und Medizintechnik werde es etwa 60.000 neue Stellen geben, Zeitarbeitsfirmen wollten rund 50.000 Menschen neu einstellen. Dienstleister für Forschung und Entwicklung sowie IT-Unternehmen rechneten mit 25.000 zusätzlichen Arbeitsplätzen. Werbung, Marktforschung und Unternehmensberatung erwarteten ebenfalls 25.000 neuen Stellen. Im Handel prognostiziert der DIHK 20.000 neue Arbeitsplätze, im Maschinenbau und in der Elektrotechnik jeweils 15.000.

Ein großer Teil des german sucess ist freilich auch der hiesigen Wirtschaftsstruktur zu verdanken. Die Exporterfolge beruhen nämlich nicht nur auf einigen klangvollen Namen wie Porsche oder Mercedes. Rund 1.000 meist mittelständische Unternehmen können sich in Deutschland in ihrer Branche oder mit einem bestimmten Produkt als Weltmarktführer bezeichnen. Nirgendwo sonst gibt es eine solche Breite, eine solche Vielfalt an Bestleistungen. Und: 90 Prozent dieser heimlichen Weltmeister tummeln sich im produzierenden Gewerbe. Also in dem Bereich, der noch vor wenigen Jahren als Old Economy belächelt wurde. Die New Economy angelsächsischer Prägung ist dagegen wie eine Seifenblase geplatzt. Manchmal leben Totgesagte eben länger.

Autor: Rolf Wenkel
Redaktion: Klaus Ulrich