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Tourette-Patienten ticken anders

Gudrun Heise31. Januar 2013

Warum brüllt der so? Der ist wohl verrückt! Die meisten reagieren ungehalten und verwirrt auf Menschen mit Tourette-Syndrom. Dabei ist es eine neurologische Erkrankung, mit noch unbekannter Ursache.

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Symbolbild Tourette Syndrom
Bild: Fotolia/anmaro

Grimassen, Zuckungen im Gesicht oder auch am ganzen Körper, Stampfen mit den Füßen oder Spucken, plötzliches lautes Schreien, das durch Mark und Bein geht.

Diese sogenannten Tics sind keine Macken oder Marotten. Tourette ist eine neurologisch-psychiatrische Störung, die meist vor der Pubertät auftritt und im Erwachsenenalter wieder weggeht.

Die Betroffenen können nichts tun gegen ihre Tics. "Das ist wie eine Feder, die sich aufzieht. Und je mehr sie sich aufzieht, umso stärker entlädt sie sich auch. Das ist wie ein Zwang."

Zwischen den einzelnen Wörtern stößt Ben Bruhns immer wieder Schreie aus, manchmal spuckt er, oder ein Bein schlägt unkontrolliert nach vorne. Bei ihm wurde Tourette im Kindesalter diagnostiziert. Heute ist er 34, und er weiß, wie andere Menschen auf die Tics reagieren: mit Unverständnis, verwirrt, manche sogar mit Abscheu.

Schimpfwörter und Obszönitäten

Viele Menschen glauben, dass Tourette-Patienten ständig obszöne Wörter brüllen. Aber: "Nur ungefähr zwanzig, vielleicht maximal dreißig Prozent aller Menschen mit Tourette-Syndrom haben Koprolalie - also diesen Drang, Schimpfwörter auszusprechen", erklärt Kirsten Müller-Vahl, Professorin an der Medizinischen Hochschule Hannover.

Warum es immer Schimpfwörter sind und nicht etwa Begriffe wie Hund, Brot, Milch - darauf gibt es bislang keine eindeutigen Antworten.

"Es gibt Spekulationen, dass wir im Gehirn sozusagen ein Zentrum für Obszönität haben und dass dieses Zentrum möglicherweise nicht ausreichend gehemmt wird. Die genaue Ursache ist aber bis heute nicht bekannt", so die Medizinerin.

Tourette-Patient Ben Bruhns mit schwarzer Katze auf dem Arm, im Garten (Foto: DW/Gudrun Heise)
Seit zwei Jahren hat Tourette-Patient Ben Bruhns Gesellschaft von Kater JerryBild: DW/G. Heise

Mehr Fragen als Antworten

Was genau im Gehirn von Tourette-Patienten abläuft - Untersuchungen dazu gibt es viele. Man weiß: Für die kontrollierte Ausführung von Bewegungen ist das korrekte Zusammenspiel komplexer Netzwerke im Gehirn notwendig, vergleichbar mit Schaltkreisen. Und beim Tourette-Syndrom klappt das nicht wie beim Gesunden.

Diese Störung hängt auch mit einer übermäßigen Ausschüttung des Neurotransmitters Dopamin zusammen. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die Signale zwischen Nervenzellen übertragen. Bei Menschen mit Tourette-Syndrom besteht beim Dopamin ein Ungleichgewicht: Die Zusammenarbeit verschiedener Hirnzentren ist gestört.

Medikamente und Gehirnschrittmacher

"Als Medikament der ersten Wahl werden Neuroleptika eingesetzt. Das sind Substanzen, die den Botenstoff Dopamin beeinflussen, beziehungsweise die Dopamin-Rezeptoren blockieren", erläutert Jens Kuhn, Professor an der Universitätsklinik Köln.

Bei schwersten Tics im Erwachsenenalter hilft oft die tiefe Hirnstimulation. Das Verfahren ist seit fast 30 Jahren bekannt und wurde zur Behandlung von Morbus Parkinson entwickelt.

"Bei diesem Verfahren werden dem Patienten zwei Elektroden mit einem relativ kleinen, neurochirurgischen Eingriff ins Gehirn implantiert", so Kuhn. "Diese implantierten Elektroden werden an einen Generator angeschlossen, der elektrische Impulse gibt. Er wird analog wie ein Herzschrittmacher im Brustkorbbereich implantiert." Bei Parkinson hilft dieser Schrittmacher zum Beispiel gegen das Zittern und bei Tourette gegen die Tics.

Tourette-Syndrom - ein schwieriges Leben

Die Angst vor den anderen

Ben Bruhns ist Patient von Jens Kuhn. Sein Gehirnschrittmacher wurde ihm in der Universitätsklinik Köln eingesetzt. Das war im Jahr 2006. Um 70 bis 80 Prozent seien die Tics zunächst zurückgegangen. "Es war toll, ein euphorisierendes Gefühl."

Aber die Freude währte nicht lange. Bei einem Sturz auf den Kopf haben sich die implantierten Elektroden verschoben. Weitere Operationen folgten. Mittlerweile haben sich die Tics um immerhin etwa die Hälfte verringert: "Mit 50 Prozent kann man sich zufrieden geben," meint Bruhns.

Bei ihm ist die Symptomatik im Erwachsenenalter nicht verschwunden. In unregelmäßigen Abständen brüllt er laut, auch mitten im Satz, er zieht die Nase hoch. Manchmal muss er spucken, oft schlägt er den Kopf nach hinten.

Seinen Kater Jerry scheint das nicht zu interessieren. "Der ist schockresistent", sagt Ben Bruhns mit einem Lächeln und zwischen zwei Schreien.

Schon in der Schule wurde Bruhns von den Mitschülern gehänselt. "'Spasti' haben die gesagt oder Vollidiot und das hat mich natürlich geprägt. Sie haben mir auch Schläge angedroht."

Immer wieder hat er die Schule gewechselt. Nach der Mittleren Reife wollte Ben Bruhns sich eigentlich zum Einzelhandelskaufmann ausbilden lassen. Aber auch da wurde er gemobbt. Er ist nirgendwo lange geblieben.

Ein weltweites Phänomen

"Es gibt Schätzungen, dass zehn Prozent - manche sagen sogar 15 Prozent - aller Grundschulkinder vorübergehend leichte Tics entwickeln", erklärt Müller-Vahl. Aber das habe noch nichts mit einer ernsthaften Krankheit zu tun. Für die Diagnose Tourette müssen mindestens ein vokaler und zwei motorische Tics vorliegen und das über einen Zeitraum von etwa einem Jahr.

Müller-Vahl schätzt, dass 0,7 bis 1 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland ein Tourette-Syndrom haben. Über die weltweite Verbreitung des Tourette-Symptoms existieren nur ungefähre Angaben: "Generell nimmt man an, dass das Tourette-Syndrom weltweit vorkommt und wohl auch mit der gleichen Häufigkeit." Das Problem sei, dass nicht aus allen Ländern Studien vorliegen.

Ein Funke Hoffnung

Im März fängt Ben Bruhns in der Nähe von Köln mit einem Praktikum an, bei einem Hersteller für Golfschläger. Und sein Tourette-Syndrom? "Der Chef weiß das, nur die Kollegen, die müssen noch aufgeklärt werden", erzählt er. Ein bisschen Angst, wieder gemobbt zu werden, habe er schon.

Aber er will es auf jeden Fall versuchen. Und in Urlaub fahren, das würde er auch gerne mal. Vielleicht mit dem Auto Richtung Süden, am liebsten nach Spanien - "auf jeden Fall dahin, wo das Meer ist".