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"Gemacht, um Schaden anzurichten"

Natalia Smolentceva
5. September 2020

Alexej Nawalny wurde offensichtlich mit dem Kampfstoff Nowitschok vergiftet. Im DW-Interview erläutert der Münchener Toxikologe Martin Göttlicher, ob auch Menschen in der Umgebung des Kremlkritikers gefährdet waren.

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Deutschland Berlin Oppositionsführer Nawalny in der Charite
Bild: picture-alliance/dpa/F. Sommer

Deutsche Welle: Vergangene Woche wurde bereits bekannt, dass der russische Oppositionelle Alexej Nawalny, um dessen Leben die Ärzte in der Berliner Charité kämpfen, mit Stoffen aus der Gruppe der Cholinesterase-Hemmer vergiftet wurde. Die genauere Analyse hat nun ergeben, dass es offensichtlich Stoffe aus der Nowitschok-Gruppe waren. Was heißt das aus Sicht der Experten?

Martin Göttlicher: Nowitschoks sind eine Gruppe von Substanzen, die ab etwa Mitte der 1970er in der damaligen Sowjetunion zunächst als Kampfstoffe entwickelt worden sind. Das Wissen ist inzwischen aber auch global verfügbar, und es sagt etwas darüber, dass es optimierte Kampfstoffe sind. Also Stoffe, die, wenn es zu einer Vergiftung kommt, sehr schwer zu behandeln sind. Sie sind bewusst gemacht, um Schaden anzurichten.

Der Doppelagent Sergej Skripal und dessen Tochter wurden 2018 ebenfalls mit Nowitschok vergiftet. Sehen Sie Parallelen zum Fall Nawalny?

Bei der Symptomatik passt vieles zusammen: Man kann schwer nachverfolgen, wie die Substanz eigentlich beigebracht worden ist. Die Symptome sind ähnlich, eine intensivmedizinische Behandlung ist nötig samt künstlichem Koma und dass das einige Wochen dauert. Bei den Skripals waren es gut drei Wochen.

Wenn man heute die ganz vorsichtigen Zwischentöne der Charité hört, könnte man daraus schließen, dass Besserung in Sicht ist. Das passt zu dem Zeitverlauf. Wie der Körper von Herrn Nawalny reagiert, passt zu dem, was wir im Fall Skripal gesehen haben. Es würde aber auch zu jedem anderen Organophosphatkampfstoff passen.

Im Fall Skripal wurden nicht nur er und seine Tochter verletzt, sondern auch andere in deren Umgebung. In welcher Gefahr schwebten Menschen im Fall Nawalny, die im Flugzeug neben ihm saßen, oder die Ärzte, die ihn behandelt haben?

Dr. Martin Göttlicher, Leiter des Instituts für Toxikologie des Helmholtz Zentrums in München.
Prof. Dr. Martin Göttlicher Bild: Michael-Stobrawe

Das hängt ganz stark davon ab, wie diese Substanz beigebracht worden ist. Ob es da Verunreinigungen an Flächen gab, die vielleicht auch andere Menschen anfassen konnten, ist nicht berichtet. Vielleicht war es in diesem Fall nicht so weit gestreut, also begrenzter, als es im Fall Skripal war. Die Nowitschoks, zumindest einige, über die man ein bisschen mehr lesen kann, sind ölige Flüssigkeiten. Sie verdampfen nicht einfach und verteilen sich dann im Flugzeug. Das sind Stoffe, die bleiben da, wo man sie hingepinselt, hingeschmiert, wo man sie letztlich hingebracht hat.

Wie viel Nowitschok ist nötig, um so eine Vergiftung zu verursachen?

Wenig. Vielleicht einige tausendstel Gramm. Das sind Mengen, die man tatsächlich unbemerkt beibringen kann.

Und wer könnte so etwas herstellen? Kann man es nur in einem Labor produzieren oder auch zu Hause?

Sie sind sicher nicht alle öffentlich, aber es gibt bekannte Formeln von solchen Verbindungen. Und es gibt auch Labors, die öffentlich publiziert haben, dass sie Nowitschoks für analytische Zwecke in kleinsten Mengen hergestellt haben. Also das Wissen, wie man solche Stoffe grundsätzlich macht, ist für jemanden, der mit hoher Energie daran geht, sicherlich irgendwie zu bekommen.

Man braucht aber schon ein ganz gutes Instrumentarium dazu. Man muss auch so ausgerüstet sein, dass man sich selber dabei schützen kann. Aber es ist auch keine völlig unmögliche, komplizierte Synthese. Es kann natürlich sein, dass es einzelne ganz besondere neue Stoffe gibt, die sehr schwer zu synthetisieren sind oder wo die Herstellungsprozeduren nicht offengelegt sind. Wenn man wüsste, was es für eine Substanz ist, könnte man mehr dazu sagen.

Um an die Ausgangsstoffe für diese Herstellung zu kommen, könnte anderseits auffallen. Das sind Stoffe, die vermutlich unter der Chemiewaffenkonvention gelistet sind. Wenn ich anfangen würde, in großem Stil und in der richtigen Kombination solche Stoffe zu bestellen, könnte es sein, dass ich Besuch von der Staatsanwaltschaft bekomme. So ähnlich, wie das wäre, wenn ich anfangen würde, Rizin zu kaufen.

Prof. Martin Göttlicher ist Leiter des Instituts für Toxikologie des Helmholtz-Zentrums in München.

Das Interview führte Natalia Smolentceva.