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Kuscheln trotz Corona: Ich werde umarmt, also bin ich

Azin Heidarinejad
6. Dezember 2020

Warum ist Umarmung und Berührung wichtig für den Menschen? Wen trifft der Verzicht auf körperlichen Kontakt in der Corona-Zeit am härtesten? Forscher geben Tipps für Menschen, die unter Berührungsmangel leiden.

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Junge umarmt Mutter
Bild: picture-alliance/Bildagentur-online/Tetra Images

Wir umarmen uns. Ein warmes Gefühl kriecht an uns hoch. Wir beanspruchen mehr Platz im Raum und die interindividuellen Grenzen verschwinden - selbst wenn nur für einige Sekunden. Eine gewollte angenehme Umarmung kann uns das Gefühl von Vertrauen, Zuneigung, Sicherheit und Trost vermitteln. Händeschütteln, Streicheln, Umarmungen, Begrüßungskuss: Solche Berührungen sind für den Menschen essenziell.

Aber zwecks Eindämmung der Corona-Pandemie müssen wir auf einige Körperkontakte verzichten. Vielen von uns wurde erst nach diesem Verzicht und Verlust klar, wie wichtig ihnen diese Berührungen sind.

Sehnsucht nach Berührungen

Warum brauchen wir Berührungen?

"Unsere Spezies Homo sapiens gehört zur Klasse der nesthockenden Säugetiere", erklärt der Haptik-Forscher und Psychologieprofessor Martin Grunwald. Er leitet das Haptik-Labor am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Universität Leipzig.  "Die ersten Lebensphasen für unsere Spezies können nur dann gut für uns sein, wenn es einen ausreichenden Körperkontakt, eine ausreichende Körperstimulation bei unserer Spezies gibt. Kein Säugling kann sich gut entwickeln, wenn er nicht auch hinreichend körperlich stimuliert wird. Die Berührungsreize führen zu neuronalem und zu körperlichem Wachstum."

Dass soziale Kontakte und Berührungsreize wichtig für das Wachstum sind, zeigt auch eine Studie über rumänische Heimkinder, veröffentlicht am 6. Januar 2020 in Proceedings of the National Academy of Sciences (PNAS).  Bei diesen Kindern waren die Gehirne durch die starke Vernachlässigung und mangelnde geistige Anregung kleiner als bei Vergleichsgruppen. 

Ein Baby fasst die Nase einer Jungen Mutter an.
Berührungsreize sind lebensnotwendigBild: picture-alliance/dpa/U. Anspach

Die Berührungsreize sind nach Meinung von Grunwald auch "ganz wichtig für Stressregulation". Es gebe zudem einen weiteren "Nebeneffekt der Körperinteraktion" und zwar, "dass sie letztendlich der Vergewisserung dient, dass wir nicht allein sind auf dieser Welt". Insofern habe Berührung eine zentrale soziale Funktion. "Diese körperliche Ebene unserer Kommunikation dient auch dazu, gute und stabile Beziehungen aufzubauen und zu halten, ganz fernab von jeglichem sexuellen Tun und fernab aller sexuellen Motivationen."

Dabei ist Berührung nicht gleich Berührung. Viele Bedingungen müssen nach Haptik-Professor Grunwald gegeben sein, damit der Körperkontakt sich positiv auf uns auswirkt: "Er muss zur richtigen Zeit von der richtigen Person mit der richtigen Stärke am richtigen Körperteil erfolgen."

Auf Berührungsreiz folgt Entspannungsreaktion

Und was passiert in unserem Gehirn, wenn uns ein nahestehender Mensch angenehm oder angemessen berührt? "Auf der Wahrnehmungsebene werden solche adäquaten Berührungsreize in positive Emotionen umgewandelt," sagt Grunwald. Unser Gehirn reagiere auf diese Berührungen mit der Aktivierung zahlreicher Hirnbereiche.

Durch die Hirnaktivierung schüttet der Körper bestimmte Neurotransmitter und auch Hormone aus, die unter anderem den gesamten Körper in einen anderen Zustand versetzen. "Auf der neuropsychologischen, neurobiologischen Ebene verwandelt unser Gehirn die Berührungsreize in Entspannungsreize, also in eine Entspannungsreaktion." 

Mehr dazu: Coronavirus und Psyche: "Ich könnt‘ auch einfach liegenbleiben"

Der  Psychologe Prof. Dr. Martin Grunwald, Gründer und Leiter des Haptik-Forschungslabors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung an der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.
Ohne Berührung können sich Menschen und andere Säugetiere nicht gut entwickeln, sagt der Psychologe Martin GrunwaldBild: Philipp Brandstädter/dpa/picture alliance

Bewusste Kontrolle und Verzicht führt zu Stress

Zur Eindämmung von Corona verzichten wir nun auf einige Kontakte. Dies kann Auswirkungen auf uns Menschen haben. Nicht allen fallen die auch als "Social Distancing" bezeichneten Kontaktverbote indes gleichermaßen schwer. 

Wie schwer uns das trifft, hängt individuell davon ab, wie stark unser Bedürfnis nach Körperinteraktion jeweils ist. Es gibt Menschen, die sehr stark körperliche Interaktionen brauchen, und es gibt Menschen, die ohne viele Berührungen auskommen. Manche mögen auch von niemandem angefasst oder berührt werden.

"Wenn man ein starkes Bedürfnis nach Körperinteraktionen hat oder dies sonst auch in seinem Alltag gewöhnt ist und jetzt darauf verzichten muss, dann führt es natürlich zu vermehrter Stressreaktion und man muss seine Bedürfnisse entsprechend kontrollieren", meint der Haptik-Forscher.

"Jede Form von bewusster Kontrolle und Verzicht bedeutet natürlich, dass man mit Zunahme von Stress-Emotionen reagiert. Auch Ängste werden durchaus erzeugt, weil dann eben auch die beruhigende Wirkung der vertrauten Körperinteraktion im Alltag fehlt." Das müsse man ernst nehmen: "Je nach Bedürftigkeit kann der Verzicht auf Körperkommunikation auch klinisch relevante Symptome erzeugen."

Fremdumarmung und Selbstumarmung: brauchen wir die Anderen?

Was ist, wenn wir uns selbst umarmen? Hat das nicht denselben Effekt? "Ein klares Nein", erwidert der Psychologe dazu. "Wenn wir dieselben Effekte durch Selbstberührungen erzeugen könnten, dann würden wir oder bräuchten wir ja gar keine sozialen Lebewesen sein", sagt Grunwald.

Italien | Coronavirus |  Umarmungsraum
Welche Altersgruppe triff der Verzicht auf Berührung und Körperkontakt am härtesten? Bild: Centro residenziale per anziani/Domenico Sartor/REUTERS

Die Körperinteraktion sei ein Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation. Grunwald betont: "Selbstumarmung führt eben nicht zu dieser Entspannungsreaktion."

Es steckt in unserer sozialen DNA

Seit Ausbruch der Corona-Pandemie haben wir uns daran gewöhnt, Körperkontakt mit Bekannten und Freunden zu vermeiden, mit Masken einkaufen zu gehen und den Nachbarn hinter der Maske bei verordneter physischer Distanz zuzulächeln und sie so zu begrüßen. Und der Mensch ist zwar ein Gewohnheitstier. Aber es wird nicht so weit kommen, dass wir uns an dieses Notfall-Verhalten dauerhaft gewöhnen und vergessen, soziale Wesen zu sein, wenn die Gefahr einmal vorbei ist.

"Die Körperinteraktion mit dem Anderen ist sozusagen in unserer biologischen oder sozialen DNA. Sie ist geprägt von unseren Erfahrungen, die wir als Kinder, als Säuglinge gemacht haben. Wir werden zu diesen Grundkommunikationsformen wieder zurückfinden," ist Grundwald zuversichtlich. 

Dabei werde vor allem die junge Generation voranschreiten. "Sie wird sich ihren körperkommunikativen Raum wiedererkämpfen und erobern. Weil sie das ganze Leben noch vor sich hat," sagt der Psychologe. "Die Partnerwahl ist nicht abgeschlossen. Die Berufswahl, die ganze Persönlichkeit muss sich noch ausreifen und dazu gehört eben auch die intensive Kommunikation mit den sozial Anderen." All das ließe sich nicht per Online-Meeting oder Video-Konferenz absolvieren. "Dazu gehören eben auch körperlich-kommunikative Aspekte." Also keine Panik: Wir werden nicht zu irgendwelchen Online-Wesen mutieren. "Dafür sorgt schon unsere biologische Grundausstattung," beruhigt der Forscher. 

"Auf etwas zu verzichten, das kennen junge Leute nicht"

Nicht alle Altersgruppen triff der Verzicht auf Berührung und Körperkontakt gleich hart. Vor allem Jugendliche und junge Erwachsene seien besonders stark von den Corona-Bedingungen betroffen. "Diese Gruppe ist begierig zu kommunizieren, andere Menschen kennenzulernen, neue Lebensräume zu erkunden und dazu gehört eben auch der Kontakt zu anderen Menschen", betont Grundwald. "Diese Gruppe jetzt hinter den Bildschirm und hinter die Laptops zu verbannen, das ist natürlich hart." 

Mehr dazu: Psychiater zu Coronavirus und Quarantäne: "Einsamkeit ist ansteckend"

Weltrekord im Baum-Umarmen in Nepal
Bäume umarmen, ein Ersatz für Berührungsmangel?Bild: picture-alliance/AP

Je jünger die Menschen seien, desto schwieriger falle es ihnen, Verzicht zu üben. "Das kennen ältere Menschen durchaus. Aber die jungen Leute haben diese Erfahrung des Verzichts noch nicht gemacht. Der [mentale Stress] durch Corona ist bei den jüngeren Leuten dadurch deutlich größer als bei älteren Menschen."

Ersatz für Berührungsmangel

Aber wie könnte man den Berührungsmangel in der Corona-Zeit trotz alledem vorübergehend kompensieren? Hilft es etwa Bäume zu umarmen, wie es der isländische Forstdienst empfiehlt?  Vielleicht wäre es besser für Menschen, die allein leben und unter sozialem Berührungsmangel leiden, stundenweise Tiere aus einem Tierheim zu betreuen, empfiehlt der Wissenschaftler. 

"Die Forschung zeigt ganz klar, wenn unsere Spezies mit anderen Säugetieren interagiert, dann profitieren beide Seiten davon", sagt Grunwald, der seine Erkenntnisse in dem Buch "Homo Hapticus" festgehalten hat. Ein weiterer Tipp von ihm: Professionelle physiotherapeutische Massagen für sich organisieren.

Eine Frau kuschelt mit einer kleinen Katze
Grunwald: "Wenn wir mit anderen Säugetieren interagieren, profitieren beide Seiten"Bild: picture-alliance/dpa Themendienst/C. Klose

Professionelle Kuschler und Kuschlerinnen, die unter Einhaltung der entsprechenden Vorschriften professionelle Berührungsreize anbieten, wären die letzte Empfehlung von Professor Grunwald.

Dabei ist er sich sicher, dass die Menschheit auch diese Zeit überstehen wird: "Sie hat schon sehr vieles überstanden: Pest, Cholera, Weltkriege. Die Mauer hat auch nicht ewig gehalten und Donald Trump haben wir auch überstanden. Also insofern wird es auch eine Zeit nach Corona geben."