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Tränen beim Bürgerdialog mit Merkel

Kay-Alexander Scholz aus Rostock16. Juli 2015

Peinlich, unecht, langweilig? Der "Bürgerdialog" der Bundesregierung wird viel kritisiert. Schüler einer Behindertenschule in Rostock zeigten nun, dass man mit der Kanzlerin auch lebhaft diskutieren kann - und emotional.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel mit weinendem Flüchtlingsmädchen (Foto: Bundesregierung)
Bild: bundesregierung.de

Vier Jahre schon habe sie Oma und Opa nicht mehr gesehen. Andere könnten das Leben genießen, sie nicht. Ihr Vater dürfe nicht arbeiten. Ihrer Familie drohe die Abschiebung zurück in den Libanon. Sie warteten derzeit auf die Antwort der Botschaft, ob sie in Deutschland bleiben dürfen. Sie selber habe Deutsch gelernt, könne Arabisch, Schwedisch und bald auch Französisch, wolle studieren, wisse nun aber nicht, wie ihre Zukunft aussieht. Sie habe sich schnell integriert, sagt sie, und wollte damit wohl unterstreichen, dass sie doch alles richtig gemacht habe! Auch Dank der Hilfe durch Mitschüler und Lehrer am Paul-Friedrich-Schell-Schulzentrum in Rostock, das Angela Merkel im Rahmen des Bürgerdialogs "Gut leben in Deutschland - was uns wichtig ist" besuchte.

Merkel antwortete auf dieses Migranten-Schicksal einer jungen Palästinenserin mit politischen Argumenten, die dem Mädchen ihre Angst vor Abschiebung nicht nehmen konnten. Zwar arbeite die Politik gerade daran, dass viele Flüchtlinge, die schon so lange in Deutschland leben, ein Bleiberecht bekommen könnten, so Merkel. Oder aber zumindest schnell eine Antwort kriegen, ob sie bleiben dürfen oder nicht. Doch der Libanon sei kein Bürgerkriegsland. Menschen aus Syrien lebten in größerer Not. Deutschland werde nicht alle aufnehmen können und es werden auch nicht alle bleiben können. "Politik ist manchmal hart," sagte Merkel.

Das Mädchen brach in Tränen aus. Die Journalisten hörten auf zu tippen, die Veranstalter verharrten für einige Momente, eine Mitschülerin weinte mit. Wie reagierte Merkel? Sie ging schnell vom Stehpult weg zum Mädchen hin, streichelte ihr über den Kopf und lobte sie. Das habe sie prima gemacht in dieser für sie belastenden Situation - sie habe gezeigt, in welche Lage man kommen könne. Der Moderator merkte an, das sei wohl nicht der Grund, warum das Mädchen geweint habe. Merkel sagte, in Deutschland lebten zwischen 6000 und 7000 jugendliche Flüchtlinge mit ähnlichem Schicksal. Die Politik müsse auch dafür kämpfen, "dass ihre Herkunftsländer wieder gute Heimatländer werden". Am Ende lächelte das Mädchen - und Merkel lobte sie noch einmal. Es war nicht die einzige Situation, bei der wohl beide Seiten dazugelernt haben.

Warum keine Homo-Ehe?

Dieser Bürgerdialog war schon vom Ansatz her ein ganz besonderer. Die teilnehmenden 14- bis 17-jährigen Schüler leben mit einer körperlichen und teils kognitiven Behinderung. Was die Gewerkschaften denken, dass wisse die Bundeskanzlerin. Deshalb sei es wichtig, denen eine Stimme zu geben, die ansonsten weniger zu hören seien, hieß es dazu von der Projektleitung. Die Bundesregierung will mit der Reihe "Bürgerdialog" die Wünsche der Bevölkerung erfahren.

Im Vorfeld hatten die Schüler eine Hand voll Themen erarbeitet, die sie mit der Kanzlerin diskutieren wollten. Dazu gehörte das Thema Inklusion, also das Miteinander von Behinderten und Nicht-Behinderten. Aber es war nicht das beherrschende Thema in den Vorbereitungsworkshops, wie zu hören war. Als echte Aufregerthemen kristallisierten sich vielmehr die Themen Homo-Ehe und das Freihandeslabkommen TTIP heraus. Also Themen, die auch bei anderen Jugendlichen derzeit ganz oben auf der Agenda stehen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel im Dialog mit Jugendlichen (Photo: Bernd Wüstneck/dpa)
Es wurde auch gelächelt in RostockBild: picture-alliance/dpa/B. Wüstneck

Letzteres Thema wurde aus Zeitgründen nicht diskutiert. Aber bei der Ehe für Schwule und Lesben zeigten die Schüler ziemlich harte Kante. "Warum gibt es diese Grenze bei Heirat und Adoption von Kindern?". Das interessiere ihn, der selber homosexuell sei, aber auch die anderen, die ihn zum Sprecher für dieses Thema ernannt hatten, so der Fragesteller. Merkel antwortete, für sie persönlich bedeute Ehe nun einmal ganz klassisch eine Beziehung zwischen Mann und Frau. Wenn sie persönlich antworte, dann wolle er das auch machen: "Ich werde im Bus als Schwuler beleidigt, das ist Realität!" Andere würden noch immer verprügelt.

Merkel verwies auf die Möglichkeit einer eingetragenen Lebenspartnerschaft. Das sei nicht das Gleiche, erwiderte der junge Mann und außerdem sei Liebe doch universell. Merkel gab zu, dass es Diskussionen gebe, aber sie müsse nun einmal auch die Mehrheitsfindung in ihrer Partei abwarten. "Sind denn alle der gleichen Meinung hier?", fragte Merkel. Die Antwort war ein lautes "Ja!"

Politik ist auch nicht einfach

An Gesprächsformaten wie dem Bürgerdialog wird in Deutschland viel Kritik geübt. Das sei kein echter Dialog. In Rostock war zu erleben, wie echt ein solcher sein kann. Die Schüler scheuten nicht vor Rückfragen zurück. Und Merkel auf der anderen Seite erklärte immer wieder, dass Politik immer auch alle Beteiligten zu berücksichtigen habe. Wenn sich die Schüler mehr Mülleimer wünschten, könnte das auch höhere Müllgebühren bedeuten. Wenn die Windkraft weiter ausgebaut wird, dann gehe auch Fläche verloren, dann bedeute das Eingriffe in die Natur. Eine Energie-Erzeugung ohne Nebenwirkungen gebe es nun einmal nicht.

Vor einigen Tagen führte der Youtuber LeFloid ein langes Interview mit der Kanzlerin. Es gab viel Kritik, der 27-Jährige habe nicht ordentlich nachgefragt, gerade auch bei Themen wie der Homo-Ehe. Das taten nun die Schüler einer Behindertenschule in Rostock.