Geschichten aus der eigenen Umgebung lesen und hören: in Tunesien war das bislang ein Fremdwort. Auch fünf Jahre nach dem Sturz von Diktator Ben Ali fehlt es in vielen Regionen noch immer an unabhängigem Lokaljournalismus. Zwar berichten die Medien in Tunesien heute freier und unabhängiger. Doch meistens dreht sich für die tunesischen Journalisten noch immer alles um die Hauptstadt Tunis und die nationale Politik. Nachrichten aus den 24 Provinzen des Landes, Geschichten über ihre Bewohner bleiben die Ausnahme.
Das soll sich ändern - zum Beispiel in der Provinz Jendouba im äußersten Nordwesten Tunesiens. Dort gibt es die Nichtregierungsorganisation Rayhana, eine lokale Frauenrechtsorganisation, die sich für mehr Gleichberechtigung einsetzt. Mit Unterstützung der DW Akademie möchten hier fünfzehn Freiwillige ein Bürgerradio für Nachrichten aus ihrer Region gründen. Sarah Mersch ist die Trainerin der DW Akademie, die die jungen Frauen auf ihre neue Aufgabe vorbereitet. "Die Menschen sollen erfahren, was sie in ihrer Region direkt betrifft", sagt Mersch, die seit Jahren in Tunesien lebt und arbeitet.
Mit Engagement für mehr Frauenrechte: Studentin Marwa Whibi wird Redakteurin beim Bürgerradio in Jendouba
Dieses Jahr soll das Bürgerradio zum ersten Mal "on Air" gehen, und zwar als Webradio. Mit dabei sein wird auch Marwa Whibi, eine Studentin der Universität Jendouba, die im Training der DW Akademie das Handwerkszeug der Radiomacherin lernt. "Ich hoffe sehr, dass wir jungen Frauen die Stimme der Menschen aus der Region sein werden, die sonst nicht zu Wort kommen." In Seminaren üben die Teilnehmerinnen Interviews, diskutieren die Auswahl der richtigen Gesprächspartner und machen aus trockenen Nachrichten lebendige Radioberichte.
Digitales Radio als Sprachrohr und Einnahmequelle
Mersch ist bereits nach der zweiten Trainingseinheit optimistisch: "Ich habe selten eine so motivierte und eine unglaublich schnell lernende Gruppe in meinen Seminaren gehabt." Auch der professionelle Umgang mit Audio-Schnittsoftware steht auf dem Programm, das Sarah Mersch gemeinsam mit Co-Trainerin Imen Ezini leitet. Die 30-jährige Kollegin ist Chefredakteurin des tunesischen Senders "Radio 3R" (Radio Regueb Revolution), einem Bürgerradio in der Provinz Regueb in Zentraltunesien. Ezini hat bei der DW Akademie eine Trainerausbildung absolviert: "Gut ausgebildete Journalistinnen helfen dabei, Mauern einzureißen, die es hier für Frauen noch immer gibt", zeigt sich Ezini überzeugt.
Auch wenn Tunesien unter den Ländern Nordafrikas bei Frauenrechten als besonders liberal und fortschrittlich gilt: Gerade in ländlichen Gebieten seien die Probleme noch immer groß, sagt Bernd Rößle, Ländermanager der DW Akademie für Tunesien. "Frauen in einer ländlichen Region wie Jendouba sind doppelt benachteiligt: dort fehlen Perspektiven, Jobs, Infrastruktur. Und als Frauen werden sie auf Kinder und Familie festgelegt und können oft ohne Erlaubnis des Mannes oder Vaters nicht mal in eine andere Stadt fahren." Diesen Frauen eine vernehmbare Stimme zu geben, das sei ein Ziel der Länderstrategie der DW Akademie für Tunesien.
Die Macherinnen von Webdradio Jendouba bei ihrer Redaktionskonferenz. Noch ist es Training, schon bald aber on Air
Die Kooperation mit Rayhana passt zu diesem Konzept, denn die Organisation mache sich um die Frauenrechte vor Ort verdient. In Jendouba bedeutet dies, das Rayhana Kulturveranstaltungen anbietet sowie einen Cateringservice mit lokalen Produkten betreibt. So soll Rayhana langfristig auch unabhängiger werden. Neben spezifischen Themen für Frauen und Mädchen sollen aber auch andere Zielgruppen angesprochen werden. Derzeit sind die Journalistinnen dabei, Ideen für den richtigen Themen-Mix zu entwickeln.
Stärkung der Zivilgesellschaft von unten
Weitere gemeinsame Projekte in der Region sind für dieses Jahr geplant. Unterstützt durch die DW Akademie will Rayhana mit eigenen Veranstaltungen und Kampagnen auf die Rechte von Frauen aufmerksam machen. So soll eine gut funktionierende Lobby für Frauen entstehen. Zudem will die Organisation näher an ihre Zielgruppen heranrücken und deren Wünsche und Nöte noch besser kennenlernen. Die Grundlage dafür sei erst einmal, zuverlässige Strukturen in der Organisation aufzubauen, so Rößle. "Die Demonstrationen überall im Land in den letzten Wochen zeigen klar, dass die Menschen dort endlich eine Perspektive sehen wollen." Und solch eine Perspektive müsse im Land selbst entwickelt werden, inspiriert und befördert durch Organisationen wie Rayhana.