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Gesellschaft

Türkei: Mit dem Baby im Knast

20. Juni 2019

Hunderte Kleinkinder leben mit ihren Müttern in türkischen Gefängnissen - unter schwierigen Bedingungen. Ein neues Konzept des Justizministeriums soll die Lage verbessern. Doch Menschenrechtler sind nicht überzeugt.

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Gefängnis
Bild: Felix Kästle/dpa/picture-alliance

"Unsere Tochter Safiye wurde an einem Freitag geboren. Einen Tag nach ihrer Geburt mussten wir sie zusammen mit ihrer Mutter ins Gefängnis schicken". Diese Worte stammen von Hüseyin Sahnaz, dessen Frau Hatice mit ihrem Säugling in einem sogenannten Typ-L-Hochsicherheitsgefängnis bei Antalya einsitzt. Der Grund: Ihr wurde die Mitgliedschaft in der 'Fethullahistischen Terrororganisation (FETÖ)' vorgeworfen. In der Türkei werden oft Regierungskritiker mit dem Verweis auf eine angebliche FETÖ-Mitgliedschaft strafrechtlich belangt - oft zu Unrecht. Zu sechs Jahren und zehn Monaten verurteilte ein türkisches Gericht Hatice Sahnaz. Ihren Job als Krankenschwester musste die junge Mutter aufgeben.

Türkisches Paar - Hatice Sahnaz und Hüseyin Sahnaz
Hatice und Hüseyin SahnazBild: Aram Ekin Duran

Der Vater und Ehemann Hüseyin macht sich große Sorgen über die Verfassung seiner Frau und seiner Tochter im Säuglingsalter. Schließlich sind die Bedingungen nicht gerade kinderfreundlich: Seine Frau muss die Zelle mit 30 weiteren Häftlingen teilen. Die Temperaturen in Antalya sind zu dieser Jahreszeit meistens weit über 30 Grad. "Ich mache mir Sorgen und Fragen schwirren mir durch den Kopf. Wie ist die Verpflegung für das Baby im Gefängnis? Wie wird sich die Hitze im Gefängnis auswirken?"

Die Regierung geht gegen Problem vor

In der regierungsnahen Presse verbreitete sich die Nachricht, dass für Mütter und Kinder in Gefängnissen ein neues Gefängnis-Konzept entstehen soll: Mütter sollen mit ihren Säuglingen und Kleinkindern nicht mehr in Zellen, sondern in Wohnzellen untergebracht werden. Noch gibt es zwar keine offizielle Bestätigung der türkischen Regierung, doch der Justizminister Abdulhamit Gül kündigte an, dass ein Pilot-Projekt mit Wohnzellen in einem Gefängnis bei Ankara für 42 Gefangene mit ihren Kindern getestet wird. In einer ersten Phase sollen 48 Wohnungen mit einer kinder- und säuglingsgerechten Ausstattung gebaut werden. Es soll sogar einen 430 Quadratmeter großen Garten geben, in dem Kinder spielen können. In einer zweiten Phase sollen solche Zellen in einem Frauengefängnis in Diyarbakir entstehen.

Türkei | Cansu Sekerci: Vertreterin des Netzwerkes der Kinder im Gefängnis
Cansu ŞekerciBild: Aram Ekin Duran

Vater Sahnaz ist nicht von dem Projekt überzeugt. Er glaubt, dass die Umsetzung des Projektes sich noch einige Jahre hinziehen werde. "Das ändert nichts daran, dass meine Tochter weiterhin in einem Gefängnis aufwachsen wird. Vielleicht wirkt sich dieses Wohnzellen-Projekt positiv auf Mütter mit ihren Kindern aus. Aber wie auch immer die Lösung aussieht, das Gefängnis bleibt ein Gefängnis."

"Es gibt keine genaueren Details über das Projekt. Wir wünschten uns, dass die Regierung weitere Informationen zu diesem Thema herausgibt", sagt Rechtsanwalt Cansu Şekerci. Sie ist Vertreterin der zivilgesellschaftlichen Vereinigung CISST, die sich mit Minderjährigen in Gefängnissen befasst und zu diesem Zweck mit der Europäischen Union zusammenarbeitet.

Die Juristin zeigt sich besorgt, denn die Beschwerdebriefe aus Gefängnissen von Häftlingen mit Kindern hätten zugenommen. Typische Probleme seien ein Mangel an Windeln, Baby-Nahrungsmitteln oder Medikamenten. "Solche Gefängnisse könnten nützlich sein, aber der Zivilgesellschaft werden keine Details mitgeteilt." Man müsse Pädagogen und Psychologen einbeziehen. Leider sei das nie passiert.

Menschenrechtler sind nicht überzeugt

Menschenrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass sich nicht nur die Haftbedingungen grundlegend ändern müssten. Vielmehr müsste der gesamte Strafvollzug so geändert werden, dass Kinder unter sechs Jahren gar nicht erst in Gefängnissen landen. Eine Möglichkeit wäre es, die Strafvollstreckung so zu ändern, dass bei Frauen, die zu weniger als fünf Jahren Haft verurteilt wurden, die Vollstreckung bis zum siebten Lebensjahr des Kindes aufgeschoben wird. Auch der Einsatz von elektronischen Fesseln wird häufig diskutiert.

Türkei | Hüseyin Kücükbalaban -Koordinator für Kinderrechte beim Verein für Menschenrechte
Hüseyin KücükbalabanBild: Aram Ekin Duran

Der Koordinator der türkischen Menschenrechtsorganisation IHD Hüseyin Kücükbalaban findet es ungerecht, dass in der Türkei Kinder für die Straftaten ihrer Mütter bezahlen müssten. Auch hat er kein Verständnis dafür, dass das Projekt "Ev tipi" (Wohnzellen) ohne Absprache mit der Zivilgesellschaft, Menschenrechtlern und Experten angestoßen wurde. Kücükbalaban glaubt auch, dass die Lösung wo anders liegt: "Keine Lösung - auch keine Wohnzellen - wird die Lage für Kinder unter sechs Jahren besser machen. Das Hauptproblem ist, dass das Strafvollzug generell geändert werden muss."

Keine Rücksichtsname bei Terrorverdacht

In der Türkei sitzen 743 Kinder unter sechs Jahren in Gefängnissen. In 343 Fällen sind die Kinder sogar jünger als drei Jahre, bestätigte Saban Yilmaz - Vorsitzender der parlamentarischen Untersuchungskommission für Menschenrechte. Im November 2018 seien laut Yilmaz zudem 35 schwangere Gefangene inhaftiert gewesen. Eine davon ist Hatice Sahnaz. Und das obwohl das Strafgesetzbuch vorsieht, den Strafvollzug bei Müttern mit Kindern unter sechs Monaten auszusetzen. Doch es gibt eine Ausnahme: Die Vollstreckung der Strafe muss nicht ausgesetzt werden, sofern die verurteile Person "für eine terroristische Organisation" gearbeitet hat. Das gelte, so hat das türkische Gericht entschieden, auch für sie. Auch wenn ihr Neugeborenes nicht einmal eine Woche alt ist - es gibt keine Ausnahme.