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Ein angeschlagenes Land

Vera Kern14. März 2016

Drei Anschläge in fünf Monaten: Die Türkei ist nicht erst seit dem jüngsten Terror ein instabiler Staat. Experten sagen: Das Konfliktpotenzial wächst weiter.

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Türkei nach dem Anschlag: Trauernde Hinterbliebene (Foto: picture-alliance/dpa/F.Aktas)
Bild: picture-alliance/dpa/F.Aktas

Die Türkei, so scheint es nach dem Autobomben-Anschlag in Ankara, kommt aus dem Ausnahmezustand nicht mehr heraus. Die Regierung vermutet die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK hinter dem Terror - eine Bestätigung von deren Seite dazu gibt es bislang nicht. Unabhängig davon, wer am Ende für die erneuten Gräueltaten verantwortlich ist, einmal mehr rückt ins Bewusstsein, wie instabil die Lage im Land geworden ist.

"Totales Staatsversagen"

Seit den Parlamentswahlen vergangenen Sommer übersäen Anschläge das Land: Im Oktober auf kurdische Demonstranten in Ankara mit über 100 Toten; im Januar auf deutsche Touristen in Istanbul. Erst vor wenigen Wochen dann eine Autobombe auf einen Militärkonvoi in Ankara - allein im Zentrum der türkischen Hauptstadt waren es drei Anschläge in den vergangenen fünf Monaten. Mal zeichnen Islamisten verantwortlich, mal die kurdische PKK.

"Der Sicherheitsapparat funktioniert nicht so, wie er funktionieren sollte", sagt Türkei-Experte Yaşar Aydın von der HafenCity Universität Hamburg im DW-Interview. Die Unfähigkeit der Behörden, für ausreichend Sicherheit zu sorgen, führt Aydın auch auf Personalmangel bei der Polizei zurück. Zahlreiche Beamte seien entlassen worden. Jetzt hätten die Nachrichtendienste zu wenig Mitarbeiter - Sicherheitslücken seien die Folge.

Trauer nach Istanbul-Anschlag (Foto: Reuters/Y. Karahan)
Trauer nach dem Attentat von Istanbul im Januar 2016: Die Menschen fürchten weitere AnschlägeBild: Reuters/Y. Karahan

Auch der Politikwissenschaftler Burak Çopur von der Universität Duisburg-Essen attestiert der Regierung "totales Staatsversagen". Bis heute habe kein Politiker aus den vielen Terroranschlägen persönliche Konsequenzen gezogen.

PKK = Staatsfeind Nummer eins

Wie beim letzten Anschlag fällten Sicherheitskreise auch diesmal schnell ein Urteil darüber, auf wessen Konto der Terror geht. Inzwischen hat auch der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu geäußert, es gebe "ernsthafte, fast sichere Erkenntnisse, die auf die separatistische Terrororganisation PKK deuten."

Angesichts des wieder hochgekochten Kurdenkonflikts ist diese Lesart durchaus denkbar. Auch Sozialwissenschaftler Aydın hält "eine Racheaktion der PKK" als Antwort auf die schweren Auseinandersetzungen, die seit mehreren Monaten zwischen PKK-Kämpfern und dem türkischen Militär im Südosten der Türkei laufen, für möglich.

Es stimmt ihn misstrauisch, dass die türkischen Behörden nach jedem Anschlag so schnell Ergebnisse präsentieren. Dass die Sicherheitsbehörden auch diesmal postwendend die PKK als Drahtzieher wähnen, passe in die Agenda der türkischen Regierung, so Aydın. Die Regierung setzt nach dem Anschlag erneut auf einen harten Konfrontationskurs gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der kurdischen Minderheit: Mit Luftangriffe, Festnahmen, Militäroperationen geht die Regierung gegen die PKK vor.

Türkei-Experte Yasar Aydin (Foto: privat)
Aydın: "Sicherheitslücken durch Personalmangel"Bild: privat

Mitten in Konflikten

Es wird immer deutlicher: Die Konfliktherde in und um die Türkei wachsen. Das Land sei anfällig für Bombenanschläge geworden, so Türkei-Experte Çopur. Da ist der der Syrienkonflikt vor der Haustür, der Clinch mit Russland, bürgerkriegsähnliche Zustände in den Kurdengebieten im Südosten des Landes. Nicht immer lässt sich da hundertprozentig klären: Diese oder jene Gruppe war es. Die vielen Anschläge, so Çopurs Analyse, seien das Ergebnis einer aggressiven Außen- und einer repressiven Innenpolitik. "Wenn man sich außenpolitisch mit Russland anlegt und zu einer Kriegspartei in Syrien wird, darf man sich nicht wundern, wenn man Ziel von Anschlägen wird", meint der Türkei-Experte.

All das verunsichert die Menschen. Sie fürchten nicht nur weitere Terroranschläge daheim. Viele Türken sorgen sich auch, dass der Bürgerkrieg in Syrien ins eigene Land schwappen könnte.

Letztlich, so Burak Çopur, spielt diese Verunsicherung der Regierung machtpolitisch in die Hände. Die Krise helfe Erdogan, sich als starken Mann zu inszenieren. Denn dass Erdogans Partei AKP bei den Parlamentswahlen vergangen Herbst eine fulminante Mehrheit erzielte, so Çopur, hängt auch mit der Instabilität im Land zusammen - und seinem Versprechen, hart durchzugreifen.

Pulverfass Türkei?

Auch jetzt nach den Ankara-Anschlägen hat Erdogan bereits mit markigen Worten angekündigt, er werde den Terrorismus "in die Knie zwingen".

"Man muss davon ausgehen, dass die Regierung weiter hart gegen den IS und die PKK vorgeht", so Sozialwissenschaftler Aydın. Kurden und türkische Regierung werden wohl nicht so schnell wieder gemeinsam am Verhandlungstisch sitzen. Doch genau das scheint vielen Beobachtern auch angesichts des Syrienkonflikts dringender notwendig als je.

Türkei-Experte Burak Copur (Foto: privat)
Çopur: "Erdogan profitiert von der Angst"Bild: Privat

"Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter", prognostiziert Politikwissenschaftler Çopur. Das, was die Türkei in letzter Zeit an Anschlägen erlebt hat, sei nur die Spitze des Eisbergs. Dem Land stehe ein "heißer Sommer" bevor. Wenn die PKK-Kämpfer nach der Schneeschmelze aus den Bergen hervorkommen, kann es zu weiterer Eskalation kommen. Am Ende, so ein mögliches Schreckensszenario, könnte die Türkei sogar zu einem zweiten Syrien werden, warnt Çopur. Das zu verhindern dürfte und muss wohl auch im Interesse Europas sein - sonst käme eine weitere Fluchtursache hinzu.