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Politik

Türkei: Bürgermeisterin darf nicht ins Rathaus

31. Mai 2019

In Istanbul muss die Kommunalwahl auf Druck von Präsident Erdoğans AKP wiederholt werden. Auch im Osten der Türkei dürfen mehrere Wahlsieger nicht in die Rathäuser einziehen. Julia Hahn hat eine Gewinnerin getroffen.

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Türkei Stadt Van
Kaçmaz will nicht aufgeben und hofft auf Veränderungen in der TürkeiBild: DW/J. Hahn

Trotz Wahlsieg kein Amt

Wenn Gülcan Kaçmaz (Artikelbild) in ihrer Heimatstadt Van unterwegs ist, kommt sie selten schnell voran. Ständig wird sie von Leuten erkannt, in Gespräche verwickelt, um Rat gefragt. Kein Wunder. Die meisten hier sehen in Kaçmaz ihre Bürgermeisterin.

Bei der Kommunalwahl Ende März war die 36-Jährige in ihrem Stadtbezirk Edremit für die pro-kurdische Oppositionspartei HDP angetreten - und hatte gewonnen. Mit fast 54 Prozent der Stimmen. Absolute Mehrheit. Doch ihre Freude über den Sieg hielt nicht lange.

"Am Wahlabend war ich noch vollkommen entspannt. Schon als die ersten Ergebnisse veröffentlicht wurden, war klar, dass wir von der HDP gewonnen haben", erinnert sich Kaçmaz. "Am Tag nach der Wahl sind dann Leute zu uns in die Parteizentrale gekommen, um mir zu gratulieren." Knapp zwei Wochen später erfährt sie, dass sie ihr Amt nicht antreten darf. "Ich war zu Besuch bei einigen Wählern. Später, auf dem Nachhauseweg, lese ich auf dem Handy Nachrichten - und da steht, dass mir mein Mandat aberkannt wurde."

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Trügerische Idylle: Im osttürkischen Van darf eine Stadtteil-Bürgermeisterin trotz Wahlsiegs ihr Amt nicht antretenBild: DW/J. Hahn

Kandidieren erlaubt, amtieren verboten

Die Begründung der türkischen Wahlkommission (YSK): Gülcan Kaçmaz dürfe nicht Bürgermeisterin sein, weil sie nach dem Putschversuch im Sommer 2016 per Notstandsdekret gefeuert wurde. Die türkische Regierung ließ damals trotz internationaler Kritik mehr als 140.000 Staatsbedienstete verhaften, entlassen oder suspendieren. Gülcan Kaçmaz, die als Geografie-Lehrerin arbeitete, stand auch auf der Liste. Warum, das habe sie bis heute nicht erfahren, sagt sie. "Ich hätte nie gedacht, dass sie mir deshalb das Bürgermeistermandat verweigern würden. Warum auch? Meine Kandidatur hat die Wahlbehörde ja schließlich zugelassen", sagt Kaçmaz.

Im Rathaus ihres Bezirks Van-Edremit sitzt jetzt der Zweitplatzierte der Wahl - der Kandidat von Präsident Erdoğans AKP. Einen vereinbarten Interviewtermin mit der DW sagte er kurzfristig ab.

"Gegen den Willen des Volkes"

Auf dem Markt in Van-Edremit sind auch zwei Monate nach der Wahl viele immer noch entsetzt über die Entscheidung der Wahlkommission. "Das ist einfach ungerecht", sagt eine ältere Frau. "Indem sie ihr das Bürgermeisteramt verweigern, stellen sie sich gegen den Willen des Volkes", mischt sich ein junger Mann ein.

Gülcan Kaçmaz hat vor ein paar Wochen gegen die Entscheidung protestiert - vor dem Rathaus, in dem sie jetzt eigentlich arbeiten sollte. Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Polizei sie verjagte. Ein Bekannter hielt das Gerangel mit dem Handy fest. "Die Wahlkommission muss doch eine absolut unabhängige Einrichtung sein. Ist sie aber nicht", sagt Kaçmaz. "Sie steht unter Kontrolle der AKP - und hat uns deshalb das Mandat verweigert."

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Mehr als eine Million Menschen lebt mittlerweile in der Stadt Van im Grenzgebiet zum IranBild: DW/J. Hahn

In insgesamt fünf Gemeinden im Südosten der Türkei hatten HDP-Kandidaten die Wahl gewonnen, doch AKP-Politiker sind nach der Anordnung der Wahlbehörde Bürgermeister geworden. Die Opposition sieht darin einen gezielten Versuch, sie von der Macht fernzuhalten. HDP-Sprecher Saruhan Oluç sprach von einer "gezielten politischen Verschwörung" der Regierungskoalition. Der Parlamentsabgeordnete Mithat Sancar nannte die Entscheidung der Wahlkommission einen "Schlag gegen den Willen der Wähler" und die "Zukunft der Demokratie in der Türkei". Für die betroffenen Bezirke fordert die HDP Neuwahlen.

Terrorvorwürfe und Warnungen

Hayrullah Tanış ist Bürgermeister in einem anderen Bezirk von Van - und der einzige AKP-Politiker der Stadt, der zu den Vorwürfen der Opposition Stellung nimmt. "Unsere politischen Gegner haben doch ganz bewusst Kandidaten nominiert, die per Notstandsdekret entlassen wurden", so Tanış. "Dabei hat unser Präsident sie gewarnt: 'Schickt niemanden ins Rennen, der Verbindungen zu Terrorgruppen oder Kriminellen hat oder aus dem Staatsdienst geflogen ist. Wenn ihr es trotzdem macht - bekommt ihr die Rechnung dafür'."

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Äußert sich als einziger AKP-Politiker der Stadt: Hayrullah TanışBild: DW/J. Hahn

Die HDP ist die zweitgrößte Oppositionspartei des Landes. Doch Präsident Erdoğan wirft ihr vor, der politische Arm der Kurdenmiliz PKK zu sein, die in der Türkei, aber auch in den USA und der EU als Terrororganisation verboten ist. Im Wahlkampf drohte er damit, HDP-Politiker erneut durch staatliche Zwangsverwalter zu ersetzen. Bereits 2016 hatte seine Regierung 95 der 102 HDP-Bürgermeister unter dem Vorwurf abgesetzt, Verbindungen zur PKK zu haben. Viele von ihnen sowie hunderte weitere Anhänger und Funktionäre sitzen nach wie vor in Haft. Wie angespannt die Lage auch weiterhin ist, zeigt sich auf den Straßen von Van. An vielen Orten fahren Militärfahrzeuge Patrouillen. Soldaten und Polizisten sind überall präsent.

Gülcan Kaçmaz hat Klage gegen die Aberkennung ihres Wahlsiegs eingereicht - auch wenn die wohl kaum Aussicht auf Erfolg hat. Sie hilft zurzeit im Schreibwarenladen ihres Mannes aus. Auch er wurde vor zwei Jahren per Dekret aus dem Staatsdienst entlassen. Ihre Reisepässe wurden eingezogen, eine neue Anstellung als Lehrer finden sie nicht. Mit dem kleinen Geschäft versuchen sie sich finanziell über Wasser zu halten. "Ich habe damals von heute auf morgen meinen Job verloren, sie haben mein altes Leben zerstört", sagt Kaçmaz. "Aber genau deshalb will ich nicht aufgeben. Ich will für die Leute in Edremit da sein", sagt sie. "Und ich hoffe, dass die Gesetzlosigkeit und die Demokratiefeindlichkeit in der Türkei bald enden."

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Die Staatsmacht zeigt Präsenz auf den Straßen von VanBild: DW/J. Hahn

Freunde haben ihr ein goldenes Namensschild für ihr neues Amt geschenkt. Es steht jetzt hier im Schreibwarenladen. Sonst erinnert kaum noch etwas daran, dass Gülcan Kaçmaz vor kurzem zur Bürgermeisterin gewählt wurde.