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Politik

Ex-NATO-Offizier riskiert Erdogans Rache

Teri Schultz
9. August 2018

Den türkischen Behörden gilt er als "Terrorist". Nach dem Putsch wurde er inhaftiert, dann gelang ihm die Flucht. Teri Schultz berichtet, was er zu erzählen hat, und warum er nicht länger über das Erlebte schweigen will.

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Belgien, Brüssel: Türkischer Nato Mitarbeiter Cafer Topkaya
Bild: DW/T. Schultz

Der ehemalige Korvettenkapitän Cafer Topkaya will für alle die sprechen, "die keine Pressevertreter treffen können, ja noch nicht einmal ihre Anwälte, während sie im Gefängnis sitzen, und ihre Unschuld nicht beweisen können." Er habe "keine Angst vor Erdogan oder dem türkischen Geheimdienst", erklärt der Marine-Offizier. Er wolle, dass der Westen erfährt, was in der Türkei passiert.

Topkaya ist einer von Tausenden türkischen Offizieren, denen Erdogan vorwirft, Unterstützer des Predigers Fethullah Gülen zu sein. Der türkische Präsident beschuldigt Gülen, von seinem Exil im US-Bundesstaat Pennsylvania aus den Putsch im Sommer 2016 initiiert zu haben. Vor allem das im Ausland trainierte und stationierte Militär war danach Ziel massiver Verhaftungswellen, die bis heute in der Türkei stattfinden. Nahezu alle von ihnen wurden von Erdogan zu "Befragungen" nach Ankara zurückbeordert, in den meisten Fällen ein Euphemismus für die Inhaftierung der Betroffenen.

Aus zwei Tagen wurden sechzehn Monate

Viele entschieden sich, der Aufforderung nicht zu folgen und stattdessen ohne Gehaltszahlungen in ihren jeweiligen Aufenthaltsländern zu bleiben. Die türkische Regierung machte sie zu Staatenlosen, indem sie ihre Pässe für ungültig erklärte.

Topkaya folgte im Oktober 2016 der Aufforderung, zu einer "dringenden Besprechung" nach Ankara zu kommen - aus einem tiefen Pflichtbewusstsein heraus, sagt er. Er ging davon aus, dass sich schnell herausstellen würde, dass er weder mit dem Putschversuch noch mit der Gülen-Bewegung etwas zu tun habe.

"Ich stand der Gülen-Bewegung nie nahe,” erklärt der Ex-NATO-Offizier. "Ich bin eine säkulare Person, westlich erzogen. Ich respektiere alle Religionen und Weltanschauungen, aber ich gehöre keiner an." Als langjähriger Marine-Offizier mit der obersten Sicherheitsfreigabe der NATO fühlte er sich sicher. Auch seine Frau Meskure machte sich keine Sorgen, als ihn die Familie verabschiedete - wie sie dachte, für eine kurze Reise.

Belgien, Brüssel: Türkischer Nato Mitarbeiter Cafer Topkaya
Das Gefängnis-Tagebuch von Cafer TopkayaBild: DW/T. Schultz

"Treffen" als Trick

Tatsächlich sahen sie sich über sechzehn Monate nicht mehr. Das angebliche "Treffen" war nur ein Trick gewesen, um ihn ins Verteidigungsministerium zu locken, wo sein Pass ungültig gemacht wurde und die Polizei ihn abführte. Seine früheren türkischen Kollegen bezeichneten ihn fortan als "Terroristen" und behaupteten, er schreibe auf seinem Twitter-Account beleidigend über Erdogan. Es half auch nicht, dass Topkaya erklärte, bis zu dem Zeitpunkt habe er niemals einen Twitter-Account besessen.

In der umgewidmeten Turnhalle, in der er zunächst festgehalten wurde, und später im berüchtigten Gefängnis Sincan, erzählt Topkaya, habe er zwölf Tage in der gleichen Kleidung auf dem Beton-Fußboden geschlafen und kaum zu Essen bekommen. Seine Mitgefangenen waren weitere hochrangige Militärs, Akademiker, Richter, Aktivisten der Zivilgesellschaft und sogar medizinisches Personal. Zumindest, sagt Topkaya, sei er selbst nicht Opfer physischer und psychischer Folter geworden, wie viele andere, die er verprügelt aus den Befragungen habe kommen sehen.

Von einem mit ihm inhaftierten Offiziere sei immer wieder die Ehefrau zu Befragungen heranzitiert und ihre kleinen Kinder bedroht worden, erzählt Topkaya. Ein anderer Mitgefangener wurde gezwungen, ein Geständnis zu unterschreiben, während man ihn auf einem Stuhl mit Elektroschocks traktierte.

Zunächst habe sich Topkaya noch eine Zeitschiene in seinem Tagebuch gemacht, an deren Ende "Brüssel" stand. Darauf strich er jeden Tag ab. Es würden ja nur ein paar Tage werden, dachte er, bis er wieder in Brüssel wäre. Nach dem 39. Strich habe er damit aufgehört.

Loyalität zur NATO kann zum Verhängnis werden

Bei seiner ersten Anhörung habe Topkaya vor Hunger kaum stehen oder denken können. Seine Vertrauensposition in der NATO, von der er gedacht hatte, sie wäre ein zentraler Baustein seiner Verteidigung, habe sich schnell als Teil seines "Verbrechens" herausgestellt: "Die Richterin sagte: Sie arbeiten bei der NATO, richtig? Ja, sagte ich, ich arbeite dort für die türkische Armee im Hauptquartier, der Kommandant der türkischen Armee hat mich dazu beordert. Aber ich konnte sie nicht überzeugen, mich freizulassen. Pro-Westlich und Pro-NATO zu sein, ist heute in der Türkei ein großes Verbrechen."

Belgien, Brüssel: Türkischer Nato Mitarbeiter Cafer Topkaya
Cafer Topkaya (rechts) will, dass der Westen weiß, wie man in der Türkei mit NATO-Offizieren verfährtBild: DW/T. Schultz

Die mehr als sechzehn Monate Gefangenschaft, sagt Topkaya, habe er psychisch nur dank der Briefe und Anrufe seiner Frau und seiner Kinder durchgehalten. Er zeigt eine Nikolaus-Zeichnung seiner ältesten Tochter. Auf keinen Fall, habe sie ihm versichert, stehe sie auf Knecht Ruprechts Liste derjenigen, die keine Geschenke bekommen würden.

Schließlich teilte man ihm mit, dass die Prozessvorbereitung länger dauern würde - wahrscheinlich, weil es keine Beweise gegen ihn gebe, vermutet Topkaya. Er wurde mit der Auflage entlassen, bei seinen Eltern zu wohnen und sich wöchentlich bei der Polizei zu melden. Dann warnte ihn sein Anwalt, es gebe Anzeichen für eine erneute Verhaftung. Als er einen alten, noch wenige Monate gültigen Pass von sich fand, den die Polizei bei den Durchsuchungen offenbar übersehen hatte, beschloss er zu fliehen.Wie er es genau machte, will er nicht beschreiben, schon um den Weg für künftig Fliehende nicht zu blockieren. Aber mit viel Hilfe und viel Glück war Topkaya eine Woche später wieder in seiner Wohnung in Brüssel. Er nahm Kontakt zu seiner Familie auf und erholte sich einige Monate. Doch was er gesehen hatte, ließ ihn nicht los. Und es bewegte ihn mehr als das, was mit ihm selbst geschehen war.

Die Wahrheit per Tweet

Topkaya entschied, mit seiner Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Er richtete einen Twitter-Acccount ein, in dem er detailliert beschreibt, was er erlebt hat und was andere wahrscheinlich immer noch durchmachen. Sein türkischer Account, erzählt er, habe ziemlichen Aufruhr ausgelöst, und er schätzt, dass er zu 90 Prozent positive Reaktionen auf seine Tweets erhalte.

Regierungsnahe türkische Zeitungen stempeln ihn als "Verräter" ab und verbreiten Berichte, wonach er und andere verhaftete Offiziere "konspirative Treffen" in Deutschland abhalten würden. "Mit jedem Tweet fühle ich mich mehr erleichtert", sagt Topkaya lächelnd, "und ich weiß, dass sie davor Angst haben." Sie, das sind die Machthaber in Ankara, die türkische Regierung, die AKP und die Erdogan-treuen Militärs.

Andere NATO-Offiziere, mit denen die DW gesprochen hat, bewundern Topkaya und sorgen sich zugleich um seine Sicherheit. "Ich traue mich das nicht", sagt einer von ihnen, "Erdogans langer Arm reicht überall hin. Sie finden heraus, wo wir wohnen, schreiben auf, was wir tun, und wenn sie Befehle bekommen, führen sie sie aus. Deshalb halten wir uns von der türkischen Community hier in Belgien fern."

Auch seine Familie wisse um die Gefahr, aber sie habe ihn stets in seiner Entscheidung unterstützt. Topkaya sagt, er habe weder Angst, noch bereue er seine Entscheidung. Er will nicht weglaufen vor Erdogan. Viel lieber trete er den türkischen Präsidenten und den anderen Anführer der Verhaftungen entgegen: "Ich möchte ihnen ins Gesicht sehen, ihnen sagen, dass falsch ist, was sie tun." Unschuldige Menschen, die Angst haben", glaubt Topkaya, "das ermutigt sie. Wir sind unschuldig. Wir sind auf der richtigen Seite. Wir sollten mutiger sein."