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Politik

Türkei verabschiedet Social-Media-Gesetz

Daniel Derya Bellut | Pelin Ünker
29. Juli 2020

Bisher waren soziale Medien in der Türkei ein Weg, die staatliche Zensur zu umgehen. Doch der türkische Präsident möchte nun mit einem neuen Gesetz die Plattformen stärker kontrollieren. Experten sind alarmiert.

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Bild: picture alliance/dpa

In den 18 Jahren seiner bisherigen Amtszeit gelang es dem türkischen Präsident Recep Tayyip Erdogan, Zeitungen und Fernsehsender weitestgehend unter seine Kontrolle zu bringen. Doch die oppositionellen Kräfte reagierten: Politiker, Aktivisten, Kritiker zogen sich in die sozialen Netzwerke zurück und erschufen dort eine alternative Öffentlichkeit. Auf Plattformen wie Twitter, Facebook oder YouTube machen Aktivisten auf Missstände aufmerksam, Oppositionspolitiker mobilisieren ihre Anhänger und kleine, alternative Medien spielen dort ihr regierungskritisches Programm aus.

Nun will Erdogan seinen ohnehin großen Einfluss und die Kontrolle über die sozialen Medien weiter ausbauen. Schon in den vergangenen Jahren hatte die Regierung die Kontrolle über Inhalte im Internet immer wieder verstärkt. Am Mittwoch hat das türkische Parlament nun der Erweiterung des Mediengesetzes 5651 zugestimmt. Die kontroverse Gesetzesänderung der Regierung verpflichtet Plattformen mit über einer Millionen Nutzern, eine Niederlassung in der Türkei zu eröffnen. 

Sollten Twitter und Co. sich weigern, eine Repräsentanz auf türkischem Boden zu eröffnen, könnten türkische Gerichte ihre Bandbreite um bis zu 95 Prozent drosseln. Zudem sollen "fragwürdige Inhalte" zukünftig mit Bußgeldern zwischen einer und zehn Millionen Lira bestraft werden. 

"Majestätsbeleidigung" als Auslöser

Nach Angaben der türkischen Regierung geht es vor allem darum, zukünftig die Verletzung von Persönlichkeitsrechten in sozialen Netzwerken und Plattformen zu verhindern. Anlass für die Gesetzesinitiative war ein Vorfall aus dem Privatleben des Präsidenten höchstpersönlich: Nachdem seine Tochter Esra Erdogan und ihr Ehemann Berat Albayrak, der zugleich Finanzminister ist, die Geburt ihres vierten Kindes auf Twitter öffentlich machten, wurden sie von zahlreichen Nutzern beleidigt.

Der türkische Präsident tobte und kündigte Restriktionen an: "Verstehen Sie jetzt, warum wir gegen YouTube, Twitter, Netflix und andere soziale Medien sind? Weil wir dieser Sittenlosigkeit ein Ende setzen wollen. Denn wir sind die Enkel einer Nation mit hoher Moral und hohen Wertvorstellungen", so Erdogan bei seiner Ansprache an die Nation.

Der Vorsitzende der NGO "Initiative für alternatives Wissen" Faruk Cayir
Der Vorsitzende der NGO "Initiative für alternatives Wissen" Faruk CayirBild: Privat

Persönlichkeitsrechte nur Vorwand?

IT-Experten sehen in dem neuen Gesetz einen  Angriff auf die Meinungs- und Pressefreiheit. "Es geht hier nicht darum Beleidigungen und Angriffe auf Persönlichkeitsrechte zu verhindern. Das Gesetz soll es erleichtern, die Bürger in den sozialen Medien zu überwachen", sagt der Vorsitzende der NGO "Initiative für alternatives Wissen" Faruk Cayir. Die betroffenen Plattformen seien in der türkischen Bevölkerung eine beliebte Nachrichtenquelle. Dass sich Nachrichten dort verbreiten, wolle die Regierung nun verhindern, sagt Cayir. Zudem ging es darum, so der Internetexperte, dass eine Drohkulisse entsteht, die Selbstzensur befördert. 

Vertreter der Regierung entgegnen dieser Kritik, dass eine ähnliche Gesetzgebung auch in demokratischen Ländern wie Deutschland existiere. Erdogan bezeichnete das Vorhaben als "deutsches Modell". Gemeint ist das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG), das im Jahr 2017 zur "Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in den sozialen Medien" in Deutschland in Kraft getreten ist. Das Gesetz soll fördern, dass Hasskriminalität und andere strafbare Inhalte, die nicht mehr von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, unverzüglich entfernt werden.

"Deutsches Modell"- ein Vergleich, der hinkt

Doch Experten halten den Vergleich mit dem "deutschen Modell" für abwegig. Für Yaman Akdeniz, IT-Rechtsexperte und Gründer eines Vereins für Meinungsfreiheit, ähnelten die gesetzlichen Änderungen eher dem "chinesischen Modell". Denn für diejenigen Plattformen, die keine Niederlassung in der Türkei eröffnen, würden gewaltige Einschränkungen die Folge sein. "In der Türkei wird jetzt schon der Zugang zu mehr als 400.000 Webseiten blockiert. Auch Twitter, YouTube und Wikipedia waren zeitweise von Zensur betroffen. Solche Bedingungen hat es in Deutschland nie gegeben."

Yaman Akdeniz, IT-Rechtsexperte und Gründer eines Vereins für Meinungsfreiheit
Yaman Akdeniz, IT-Rechtsexperte und Gründer eines Vereins für MeinungsfreiheitBild: DW

Akdeniz erhofft sich daher, dass die Social Media-Anbieter diesen "restriktiven Gesetzesvorschlag" kategorisch ablehnen. "Nur dann hat Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei eine Überlebenschance."

Die Gesetzesänderung gegen soziale Netzwerke kommt nicht überraschend: Die türkische Regierung reagiert besonders seit Beginn der Coronakrise dünnhäutig auf kritische Kommentare in den sozialen Netzwerken. Es folgten zahlreiche Strafanzeigen gegen Journalisten, die Pandemie-Maßnahmen kritisierten. In einer Wutrede Anfang April bezeichnet Erdogan Pressevertreter sogar als "mediale Viren", von denen mehr Gefahr ausgehe, als von dem Coronavirus.

Zensur der sozialen Medien - großangelegte Strategie

Ende Mai gab der türkische Präsidentenpalast einen "Ratgeber für die Nutzung von sozialen Medien" heraus. Ein 161-seitiges Handbuch, das "korrekte, gesunde und sichere Nutzung" von sozialen Netzwerken sichern soll. In dem Buch empfiehlt der Kommunikationschef des türkischen Präsidenten, Fahrettin Altun, einen Prozess der Zentralisierung einzuleiten, um die Verbreitung "manipulativer Informationen von globalen Meinungsmachern" zu verhindern. 

Tatsächlich kommen Experten zu der Einschätzung, dass nicht die Presse, sondern die türkische Regierung die Bevölkerung desinformiert und zugleich Persönlichkeitsrechte missachtet. Beispielsweise häufen sich Beweise, dass die türkische Regierung eine sogenannte "Troll-Armee" engagiert - lautstarke Nutzer, die mit regierungsfreundlichen Aussagen die sozialen Netzwerke überfluten und gleichzeitig versuchen, Kritiker und Oppositionelle mit wüsten Beleidigungen und Anschuldigungen mundtot zu machen. Doch die Strategie ist offensichtlich bisher nicht aufgegangen. Oppositionelle Kräfte halten in den sozialen Medien nach wie vor die Deutungshoheit - das neue Kontrollgesetz könnten das Kräftegleichgewicht jedoch zum Kippen bringen. 

 

Der Beitrag wurde nach Verabschiedung des Gesetzes aktualisiert.